Das Testament von Karl Kraus

Wien
08.06.1936 – 13.08.1936

[203.] In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1935 schrieb Kraus sein Testament nieder, das einige juristische und sprachliche Unklarheiten und Fehler enthält. Kraus, der sonst an seinen Texten ein sehr aufwendiges Korrekturverfahren walten ließ, hat diesen Text offensichtlich nur einmal, im Februar 1936, redigiert. Viele Interpreten sind auf die auffällige Vermeidung des Wortes "Tod" (das Kraus fälschlicherweise mit "Leben" ersetzt) eingegangen. Problematischer war allerdings die Unsicherheit, die Kraus in Bezug auf die Rechte an seinem Werk hinterließ. Kraus' letzter Wille offenbart nicht eindeutig, wer die Urheberrechte an seinem Werk innehaben sollte. Einserseits werden Karl Jaray, Heinrich Fischer und Philipp Berger mit der Herausgabe seiner Schriften betraut, andererseits verbietet ihnen Kraus die Veröffentlichung aus gedruckten Werken, Manuskripten oder Briefwechseln. Die Streitigkeiten um die Herausgeberrechte hielten bis in die 50er Jahre an. Im Jahr 1952 erschien der erste Band einer mehrbändigen Ausgabe von Kraus' Werken im Kösel Verlag, herausgegeben von Heinrich Fischer: Zum ersten Mal wurde Kraus' Polemik aus dem Jahr 1933 gegen den Nationalsozialismus und die Geschehnisse rund um die Machtergreifung unter dem Titel "Die Dritte Walpurgisnacht" vollständig als Buch publiziert.

 

MEIN TESTAMENT

welches ich Dr. Samek zu vollstrecken bitte. Mit der ev. Herausgabe meiner Schriften, Ordnung der Briefschaften, Dokumente etz. betraue ich Professor Dr. Jaray (Karl), Heinrich Fischer (Prag), als Hilfskraft Dr. Philipp Berger. Niemand aber der Genannten hat das Recht, eine Zeile von mir - sei es aus Gedruckten, etwa auffindlichen Handschriften oder Briefschaften (von mir oder aus an mich geschriebenen) - zu veröffentlichen. Der Ertrag eines etwa herauszugebenden Werkes (oder Werke), das Briefe an mich enthält, würde Dr. Philipp Berger allein zufallen. Der Ertrag meiner sämtlichen (inkl. aller vorhandenen Hefte der Fackel) gehört zu 30% den Herausgebern, zu 20% den Familien Jahoda und Siegel (die die Auslieferung) auszuliefern hat, zu 25% Sidonie Nadherny und zu 25% Frau Helene Kann, der auch Manuscripte u. sonstige Dokumente für das Archiv zu überlassen wird. Dieses selbst nach dem Ableben der Verwahrerin einen von der von ihr zu bestimmenden Zweck oder Faktor (etwa der Stadt Wien) zu.

Nach dem Ableben meiner Schwester Marie Turnovsky wird das folgende fortgesetzt: Das etwa vorhandene Bargeld gehört meinen anderen Schwestern. Von den Geldern, die Dr. Samek verwaltet (Sparkasse etz.) (+auch die noch zu bezahlenden Summen, von denen Dr. Samek Kenntnis hat.), gehört ein Drittel Nadherny, ein Drittel Frau Helene Kann. 2000 Schilling (zweitausend) Frau Antonie Wallek zum Dank für ihren treuen Dienst, 3000 Schilling Fräulein Frieda Wacha, je 500 Schilling Emilie und Adele Humburger (deren Adresse meinen Brüdern bekannt ist); der Rest Heinrich Fischer. Wenn einer der Beteiligten nicht mehr am Leben, erfolge die entsprechende Aufteilung.

Der gesamte Inhalt der Wohnung gehört den zu je einem Drittel den unten genannten Schwestern, zu einem Drittel Frau Emma Fridezko. Andenken sind bestimmt für Frau Wallek, für jeden meiner Brüder. Das Album von Janovice, die Landschaften von Janovice und die Bilder von Sidonie Nadherny, das silberne Cigarettenetui, die Papierschere mit Goldgriff, der Spazierstock für Sidonie Nadherny. Fast alle anderen Photographien (mit Ausnahme der xxx Andenken) für Frau Helene Kann. Die der Frau Maria Mayr (Paniglgasse 16) mögen nach vorheriger Anfrage ihr übergeben werden. (Frau Kann dürfte diese Bilder erkennen), dazu ein Bild von mir, je 3000 (dreitausend) Schilling Frau Malvine Weingarten und Frau Luise Drey; 300 Schilling (dreihundert) dem Druckereidiener Jakob.

Die Bücher sollen zur Hälfte Dr. Oskar Samek gehören, die andere Hälfte ist zwischen Sidonie Nadherny, Hel. Kann, Dr. Philipp Berger, Prof. Jaray, Martin Jahoda; Gräfin Mary Dobrzensky, Fritz Schick, Berlin, Charlotte Joel, Berlin (Adresse Verlag), Frau Nellie Lechner-Kraus (Prag), Miss Mary Coony, p. A. Nadherny, Dr. Fritz Siegel, Fürstin Mechtild de Lichnowsky (Cap d'Ail), Rolf (Nürnberg), der liebe Ludwig v. Ficker, Sigismund v. Radecki, Prof. Dr. Jaray, Charlotte Joel (Berlin), Frau Johanna König-Jahoda, Richard Lanyi, Heinrich Fischer, Max Bunzi, Dr. Johann Turnovsky, Herrn und Frau v. Chlumecki aufzuteilen.

Das Album Annie Kalmar, die Bilder u. Büste Annie Kalmar sollen Frau Helene Kann gehören, der auch das Archiv sowie das Porträt verbleibt. Für das Grab Annie Kalmars in Ohlsdorf bei Hamburg (Anna Kaltwasser) hat Frau Helene Kann zu sorgen, Frau Malvine Weingarten möge die Obhut für das Grab meiner Schwester Marie Turnovsky und deren Mannes übernehmen. Dr. Samek möge für das ihm bekannte Grab der armen Frau Maria Christoduloff sorgen, falls es ihr Mann nicht tun sollte (beide mögen in ihren Testamenten weitere Verfügungen treffen).

Schreibtisch links unten, mittlere Lade: alles auf Annie Kalmar und Familiendinge bezügliche übernehme Frau Helene Kann. Briefe, Polster, der seit 1901 in dieser Lade sich befindet. Schrank im Schlafzimmer, der Teil beim Fenster (zu dem der Schlüssel im Schreibtisch links oben vorfindlich): Briefe von Sidonie Nadherny; Mechtilde Lichnowsky, Mary Dobrzensky ungelesen an diese. Ebenso Briefe, die sich sonst unter den Papieren finden und die gleiche Schrift aufweisen.

Was auf den ersten Blick (und ohne weiteren in den Inhalt) als die Schrift dieser Absenderinnen, etwa auch durch Poststempel feststellbar ist in wohlverschlossenen Paketen an sie zurückzustellen (nach freundlicher vorgehender Anfrage).

Was rechts im Schreibtisch (mit Ausnahme von sonstigen Briefen, also hauptsächlich Briefe von Frauen) möge gf. Dr. Samek an sich nehmen und nach Gutdünken behandeln. Als Andenken an die oben genannten Personen kommen statt Bücher auch Bilder und insebsondere Manuskripte in betracht. (Auch an Frau Wallek irgendein Gegenstand.) Ueber den Inhalt des Testamentes darf von keinem der Beteiligten gesprochen werden; etwa vorfindliche andere (1917, 1919, ev. 1933) sind damit umgestossen und sollen vernichtet werden.

Nur weil mein leben so wenig eine Familienangelegenheit sein sollte, wie es mein Leben - der Arbeit wegen-sein musste, bitte ich meine Verwandten, meiner Bestattung (Beerdigung) fernzubleiben. Dass es eine Privatangelegenheit sei, die auch andere fernhält, kann ich nur wünschen, nicht sichern. Ich danke allen lieben Freunden, den bekannten und den unbekannten.

Karl Kraus m.p.

27./28. August 1935

rev. 19./20. Februar 1936

Nb. Andenken an Frau und Herrn Dr. M. v. Chlumecki, Herrn u. Frau Krieneck, Frau Antonie Wallek, Herrn Franz Mittler, Herrn Dr. Otto Janowitz, Frl. Modern, Herrn und Frau Dr. Schornstein (M. Ostrau) u. die beiden anderen M. Ostrauer Bekannten.