246. Vorlesung am 24.09.1922

Wien
24.09.1922

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 24. September, 3 Uhr:

Vorwort: Vom großen Welttheaterschwindel.

Der Talisman, Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy. Musik von Adolph Müller sen. und nach Angabe des Vortragenden. (Begleitung: Prof. Josef Bartosch.)

Auf dem Programm die Bemerkung vom 7. Juni.

Der volle Ertrag — einschließlich des Programmerlöses (mit Nachlaß der halben Druckkosten), bei Provisionsverzicht der Kartenverkaufsstelle Lányi, mit Spenden im Betrage von K 202.000 und K 100.000 für Autogramme —: K 2,193.600 für die Altpensionisten der Bundestheater, das Haus des Kindes, das Blinden-Erziehungsinstitut (Wien, II., Wittelsbachstraße 5) und altpensionierte Landärzte (Sammlung Dr. Reinhardt, Wien, XIII., Speisingerstraße 109).

[Die Fackel 601-607, 11.1922, 92] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Vorwort: Vom großen Welttheaterschwindel

Der Talisman

Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy

Musik von Adolph Müller sen. und nach Angabe des Vorlesers

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Begleitung: Prof. Josef Bartosch

Nach dem ersten Akt eine längere, nach dem zweiten eine kurze Pause.

Die erste Aufführung des »Talisman« hat am 16. Dezember 1840 im Theater an der Wien mit Nestroy als Titus und Scholz als Spund stattgefunden. — Eines der tiefsinnigsten und dialogisch bedeutendsten, eben darum dem Geschmack eines fortgeschrittenen Theaterpublikums entlegensten Stücke Nestroys. Der Titus Feuerfuchs hat eigentlich, fast wie der Faden in den »Beiden Nachtwandlern«, den Umriß einer Girardi-Figur, und es ist gewiß für das Zweierlei von dramatischer und schauspielerischer Schöpfung bezeichend, daß Girardi, der die gleiche Fülle und die ähnliche Menschlichkeit der wertlosesten Unterlage angezaubert hat, die Wiedergabe des künstlerischen Textes scheuen konnte, der schon die Fassung seiner Natur war. Der Gestalt, die auf der Bühne wächst, ist eben nur das auf den Leib geschrieben, was ohne sie kein Leben hat, und die literarische Forderung an Girardi, das Zureden zu Nestroy blieb — abgesehen davon, daß eine wesentliche Verbindung nur in wenigen Figuren deutlich wird — die Forderung des Literatentums, das vom schauspielerischen Element auch nicht die leiseste Ahnung hat.

Nebst aller Verschandelung Nestroys durch die freche Unfähigkeit der neuen Inszeniererei, die, wenn sie sich schon zu ihm herabläßt, ihren Kommiswitz am alten Theaterapparat — den sie nie erreichen wird — üben muß; nebst den Lumpereien neudeutscher Nestroy-Bearbeitung ist das neue Bühnenwesen auch durch die Verwahrlosung des Musikmaterials gekennzeichnet. Unter dem sieghaften Mißton der Tanzoperette sind die Partituren Adolph Müllers sen. schneller dahingeschwunden, als es selbst die Mißwirtschaft der Theaterarchive erfordert hätte. Es bedarf schon eines Ohrs, dem die Gemeinheit der heutigen Klangwelt nichts anhaben konnte, um hier einen Versuch der Rekonstruktion zu wagen. Ein solcher erscheint in den Melodien Mechtilde Lichnowskys mit einer einzigartigen Fähigkeit der Einfühlung in den Zeitton gelungen. Von der Originalmusik zum »Talisman« waren nur noch Teile des I. Aktes: das entzückende Entree des Titus und das Lied der Salome auffindbar. Alle anderen Musikstücke: die Chöre und die Couplets sind nach Angabe des Vortragenden vom Begleiter gesetzt worden. Zu den Couplets: »Ja, die Zeit ändert viel« und »Na da hab’ i schon g’nur« sind wieder Zusatzstrophen entstanden, die — was gegenüber gewissen albernen Meinungen, die selbst in diesen Auditorien Platz haben, gesagt sei — natürlich nicht mit den üblichen Zutaten der Textrenovierer zu verwechseln sind und um keine Linie die Reaktion Nestroyschen Geistes auf die Zeitumstände seiner Nachwelt überschreiten oder hinter ihr zurückbleiben. Deren Vorstellung und Erfüllung steht dem an, dem sie zusteht.

Der volle Ertrag fällt den Altpensionisten der Bundestheater, Kindervereinen, Blindeninstituten und altpensionierten Landärzten zu.

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