319. Vorlesung am 07.02.1925

Wien
07.02.1925

[Karl Kraus las im Kleinen Konzerthaussaal am] 7. Februar, 7 Uhr:

Nestroy-Zyklus II. Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab, Parodierende Posse mit Gesang in drei Abteilungen von Johann Nestroy. Musik von Mechtilde Lichnowsky.

Begleitung: Dr. Viktor Junk.

Der volle Ertrag (inkl. Programmerlös): K 5,214.900 für das Elisabeth-Heim für Kriegswaisen, Lehrmädchen und Arbeiterinnen (II. Leopoldsgasse 15), die Jüdische Jugendfürsorge (I. Seitenstettengasse 2) und für Unterstützungsbedürftige.

[Die Fackel 679-685, 03.1925, 49-50] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Nestroy-Zyklus

II

Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab

Parodierende Posse mit Gesang in drei Abteilungen von Johann Nestroy

Musik von Mechthilde Lichnowksy

[...]

Begleitung: Dr. Viktor Junk

Zwei Pausen

Der volle Ertrag wird dem Elisabeth-Heim für Kriegswaisen, Lehrmädchen und Arbeiterinnen (II. Leopoldsgasse 15), der Jüdischen Jugendfürsorge (I. Seitenstettengasse 2) und Unterstützungsbedürftigen zugewendet.

[...]

Die erste überaus erfolgreiche Aufführung der Parodie hat am 13. Februar 1835 stattgefunden; sie dürfte aber bald nach dem Original Holteis und nach dessen Gastspiel in der Rolle des Dichters Heinrich vom Wiener Repertoire verschwunden sein. Freilich hat Holteis »Lorbeerbaum und Bettelstab« wie jede solche Schablone für schauspielerisches Pathos gelegentlich noch große Darsteller und Virtuosen, von Emil Devrient bis Haase und Sonnenthal, angezogen und sich auch in der Provinz erhalten. Wenn man heute als Leser die Wahl hat, dieses Rührstück eines der bravsten Menschen und schlechtesten Musikanten jener Literaturepoche oder die Nestroy’sche Posse für eine Parodie zu halten, so würde man glauben, jenes sei sie. Nicht mit Unrecht sagt ein Monograph, daß Nestroys Dichter Leicht »weniger eine Karikatur des Originals als vielmehr ein bis ins Zynische getriebenes Gegenstück« sei. Nestroy hat dem Jammerlappen, dessen »Genie« darin besteht, daß er es behauptet und gegen die Banalität einer undankbaren Welt mit seinem banaleren Begriff von Poetentum und mit unleidlicher Schönrednerei auftrumpft, ganz bewußt seinen resoluten Theaterhandwerker und späteren Harfenisten entgegenstellt und die Beziehung auf die Vorlage eigentlich nur in der gesellschaftlichen Reduzierung des Milieus durchgeführt. »Wollen Sie mich foppen? Oder halten Sie mich wirklich für so dumm? Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten, lachen sollen d’ Leut’, und mir soll die G’schicht a Geld tragen, daß ich auch lach’, das ist der ganze Zweck. G’spaßige Sachen schreiben und damit nach dem Lorbeer trachten wollen, das ist grad so, als wenn einer ein’ Zwetschgenkrampus macht und gibt sich für einen Rivalen von Canova aus.« Wenn diese berühmt gewordenen Worte des Leicht wirklich ein Selbstbekenntnis seines Autors waren, so konnte Nestroys Bescheidenheit, der man zwar die künstlerische Geringschätzung des eigenen Wirkens, aber nicht dessen materielles Motiv glaubt, nur von seinem Genie übertroffen und berichtigt werden, das sich auch im Dialog dieses unbekannteren Werkes nicht verleugnet. Die Figuren sind ganz losgelöst von ihrer Beziehung verständlich, zumal der dem weltgewandten »Chevalier« Holteis kontrastierte Herr Überall, der grundsätzlich nur nach Fischamend reist und alle Geschehnisse aus der Perspektive dieses Ortes betrachtend, das Urbild eines geradezu liebenswerten Idiotismus darstellt. Der Vortrag, in dem nur wenige saloppe oder ungenau überlieferte Versstellen verändert und die zwei Coupletstrophen des Herrn Überall um eine Zusatzstrophe vermehrt sind, wurde durch die Entstehung der Begleitmusik angeregt, die gleich dem Entree in den »Schlimmen Buben in der Schule« und den andern Kompositionen Mechtilde Lichnowskys zu Nestroy (namentlich im Lied der Agnes, des Fischamend-Narren und in den drei Harfenistenliedern) ein Wunder der Einfühlung bedeutet und eine verschollene Zeitstimmung so wiederherstellt, daß man sich die verschollene Originalmusik gar nicht anders und nicht zeitechter denken könnte.

(Nachtrag:) Und wie sich im Vergleich mit der fälschlich für verschollen gehaltenen, aber in den städtischen Sammlungen aufbewahrten Adolf Müller’schen Partitur inzwischen herausgestellt hat, bleibt diese hinter der neuen Musik eben darin (in der Echtheit der Zeitstimmung) weit zurück.