405. Vorlesung am 30.01.1927

Wien
30.01.1927

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 30. Januar:

Nestroy: Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab. (Musik von Mechtilde Lichnowsky). Begleitung: Victor Junk.

Die Zusatzstrophe zum Couplet des Überall wiederholt.

Mit der alten Programmnotiz.

[Die Fackel 751-756, 02.1927, 80] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab

Parodierende Posse mit Gesang in drei Abteilungen von Johann Nestroy
Musik von Mechtilde Lichnowsky

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Die erste überaus erfolgreiche Aufführung der Parodie hat am 13. Februar 1835 stattgefunden; sie dürfte aber bald nach dem Original Holteis und nach dessen Gastspiel in der Rolle des Dichters Heinrich vom Wiener Repertoire verschwunden sein. Freilich hat Holteis »Lorbeerbaum und Bettelstab« wie jede solche Schablone für schauspielerisches Pathos gelegentlich noch große Darsteller und Virtuosen, von Emil Devrient bis Haase und Sonnenthal, angezogen und sich auch in der Provinz erhalten. Wenn man heute als Leser die Wahl hat, dieses Rührstück eines der bravsten Menschen und schlechtesten Musikanten jener Literaturepoche oder die Nestroy’sche Posse für eine Parodie zu halten, so würde man glauben, jenes sei sie. Nicht mit Unrecht sagt ein Monograph, daß Nestroys Dichter Leicht »weniger eine Karikatur des Originals als vielmehr ein bis ins Zynische getriebenes Gegenstück« sei. Nestroy hat dem Jammerlappen, dessen »Genie« darin besteht, daß er es behauptet und gegen die Banalität einer undankbaren Welt mit seinem banaleren Begriff von Poetentum und mit unleidlicher Schönrednerei auftrumpft, ganz bewußt seinen resoluten Theaterhandwerker und späteren Harfenisten entgegenstellt und die Beziehung auf die Vorlage eigentlich nur in der gesellschaftlichen Reduzierung des Milieus durchgeführt. »Wollen Sie mich foppen? Oder halten Sie mich wirklich für so dumm? Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten, lachen sollen d’ Leut’, und mir soll die G’schicht a Geld tragen, daß ich auch lach’, das ist der ganze Zweck. G’spaßige Sachen schreiben und damit nach dem Lorbeer trachten wollen, das ist grad so, als wenn einer ein’ Zwetschgenkrampus macht und gibt sich für einen Rivalen von Canova aus.« Wenn diese berühmt gewordenen Worte des Leicht wirklich ein Selbstbekenntnis seines Autors waren, so konnte Nestroys Bescheidenheit, der man zwar die künstlerische Geringschätzung des eigenen Wirkens, aber nicht dessen materielles Motiv glaubt, nur von seinem Genie übertroffen und berichtigt werden, das sich auch im Dialog dieses unbekannteren Werkes nicht verleugnet. Die Figuren sind ganz losgelöst von ihrer Beziehung verständlich, zumal der dem weltgewandten »Chevalier« Holteis kontrastierte Herr Überall, der grundsätzlich nur nach Fischamend reist und alle Geschehnisse aus der Perspektive dieses Ortes betrachtend, das Urbild eines geradezu liebenswerten Idiotismus darstellt. Der Vortrag, in dem nur wenige saloppe oder ungenau überlieferte Versstellen verändert und die zwei Coupletstrophen des Herrn Überall um eine Zusatzstrophe vermehrt sind, wurde durch die Entstehung der Begleitmusik angeregt, die gleich dem Entree in den »Schlimmen Buben in der Schule« und den andern Kompositionen Mechtilde Lichnowskys zu Nestroy (namentlich im Lied der Agnes, des Fischamend-Narren und in den drei Harfenistenliedern) ein Wunder der Einfühlung bedeutet und eine verschollene Zeitstimmung so wiederherstellt, daß man sich die verschollene Originalmusik gar nicht anders und nicht zeitechter denken könnte.

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Die Zuwendungen aus den Erträgnissen werden in der Fackel ausgewiesen

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