440. Vorlesung am 26.03.1928

Berlin
26.03.1928

[Karl Kraus las im Schwechten-Saal am] 26. März:

Madame l’Archiduc.

[Die Fackel 781-786, 06.1928, 77] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Madame L'Archiduc

(Frau Erzherzog)

Operette in drei Akten. Musik von Jaques Offenbach

Text nach Albert Millaud von Karl Kraus

Musikalische Einrichtung für den Vortrag und Begleitung: Dr. Otto Janowitz (Wiener Staatsoper)

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Konzerflügel: Schwechten

Die Gestaltung der geistigen Welt Offenbachs müssen und wollen den Anspruch auf eine musikalische Interpretation im streng technischen Sinne unerfüllt lassen. Die Wiedergabe erfolgt ohne Kenntnis der Notenschrift.

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In Paris noch heute auf dem Repertoire stehend, nach Wien — die Begebenheit spielt in Parma unter erzherzoglicher Herrschaft — nur in textlicher Verwässerung gelangt und in der handwerklichen Schablone eines sonst besseren Bearbeiters, mit seinem Vollklang uns verschollen, verbindet das Werk Anmut und Ebenmaß einer Lustspielhandlung mit allen Offenbach’schen Wundern zu einer Einheit und Einzigartigkeit, mit der im gleichen Jahre auf die Welt gekommen zu sein dem neuen Übersetzer und Vortragenden ein abergläubisches Glücksgefühl verursacht. In Wort und Ton die Uroperette, bestärkt es die Ansicht, daß das Genre in seiner Vollendung — fern vom Begriff jener fragwürdigen Wiener Belustigung zwischen Walzer und Shimmy — zugleich einen Gipfel der Theaterkunst bedeutet und, wie im Narrengefolge eines Shakespeareschen Königs, allen Spielraum öffnet für die Belichtung der Welt durch den Genius des musikalischen Froh- und Tiefsinns, als die Form einer Vergeistigung, die den Ernst des Lebens in ein närrisches Märchen auflöst. Wie hier Sphäre und Gestalt, Willkür des Herrschertums und Willkür der Operette verwachsen und verwechselbar sind und wie sich das Unwahrscheinliche da und dort von selbst versteht, das bildet einen Gipfel des Offenbachschen Tyrannenhumors, die Liebe lohnend, mit der der Bearbeiter an die Aufgabe ging, diese Rhythmen so dem schwierigeren deutschen Vers anzuschmiegen, als wären sie mit ihm erschaffen. Unter den mehr als hundert Gaben eines Verschwenders, dessen Zeitalter erst anbrechen wird, wenn jemals noch menschliches Gehör seine Empfänglichkeit wiederfindet, steht — in der Reihe verklungener Herrlichkeiten wie »Périchole« und »Madame Favart« — diese Burleske von der zur Regentin aufsteigenden Kellnerin an vorderster Stelle, dank der reifen und noblen Lieblichkeit ihrer Musik und vermöge der Qualität eines Buches, das, von Akt zu Akt seine Wirksamkeit steigernd, nicht wie manche berühmteren Texte bei aller musikalischen Bereitschaft aus Überladung in Beiläufigkeit endet. Louis Schneider, der Biograph Offenbachs (»Les maîtres de l’opérette française«, Paris, Librairie académique Perrin et Cie, 1923) — der Halévy die Mitarbeit am Millaud’schen Text zuschreibt,
die Handlung ungenau erzählt und, anders als die bei Calmann-Lévy neu aufgelegte Buchausgabe und wohl irrtümlich, 1873 als das Jahr der Uraufführung angibt — sagt, dieser Text sei »d’une facture soignée«, und nennt die Musik »une des partitions les plus heureuses de la seconde série, qui va de 1871 à la mort du maître .... Dès l’ouverture on est pris par cette fantaisie qui est la marque même d’Offenbach: un rhythme fou, dégingandé, auquel succède une phrase câline, telle une supplication qui voudrait se faire pardonner un mouvement désordonné.« Die Marietta der Madame Judic, in Wien von der Geistinger gespielt, wird als »une inoubliable création« besprochen. Partien wie die Inkognito-Szene im dritten Akt mit dem Chor »Pas de scandale!«, oder auch das A B C-Sextett im zweiten, gehören zu dem Stärksten, was das heitere Theater je vermocht hat, und mit einem Entree wie dem »Original« des Erzherzogs er- scheint selbst das des Generals Bumbum aus der »Großherzogin von Gerolstein« übertroffen. Würdig vertritt diese Operette eine Schöpfung, der der Biograph abschließend die folgende Charakteristik widmet: »S’il faut résumer son oeuvre, on peut dire qu’il a découvert un monde nouveau, une île inconnue, la terre du rire musicale .... Il a peuplé ainsi le cerveau de ses contemporains de toute une série de créations qui sont des modèles d’esprit, de bonne humeur, d’ingénuité malicieuse. Il a donné la vie à de soi-disant marionettes qui n’étaient en réalité que des êtres humains regardés par le petit bout de la lorgnette et dont il a quelque peu défiguré la forme afin que personne ne pût se reconnaître et se sentir blessé. Il a étè l’historien musical de son temps, un Daumier qui aurait employé les notes de la gamme pour dessiner des silhouettes. Avec Hervé, qu’il ne faut jamais oublier, il a donné naissance à un genre, l’operette, qui est française, parisienne, comme la valse est allemande, viennoise ....«
Nur eben mit dem Unterschied zwischen der geistigen Tat, die die Kausalität der menschlichen Dinge aufhebt, und einem Zeitvertreib, der sie unterbricht. Durch die Erneuerung der Madame l’Archiduc ist unserer Bühne ein Werk geschenkt, mit dessen Verschmähung sie, dem Geist unzugänglich, an Technik und Tanz verloren, ihre eigene Verschollenheit und Unrettbarkeit dartun wird.