485. Vorlesung am 18.02.1929

Wien
18.02.1929

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 18. Februar, ½8 Uhr:

Offenbach: Die Briganten.

Begleitung: Georg Knepler.

[Die Fackel 806-809, 05.1929, 24] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Die Briganten

Operette in drei Akten von Offenbach

Text von Meihac und Halévy, nach der Übersetzung von Richard Genée erneuert von Karl Kraus

[...]

‚Sozialdemokrat‘, Zentralorgan der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, 22. Mai:

Karl Kraus liest Offenbach.

Daß unsere Bühnen Offenbach nicht spielen können — hätte man es nie gefühlt in einer Welt, der jede Ahnung wirklichen Theaters fehlt —, man hätte es empfunden, als Karl Kraus durch die Magie seines Wortes die Märchenwelt Offenbachs für drei köstliche Stunden in ihrer ganzen berückenden Heiterkeit erstehen ließ. Die Theater spielen Offenbachs Wunderwerke, die aus dem Geiste einer begnadeten Musik und einer kongenialen Wortkunst geboren sind, als grobe, auf szenische Effekte ausgehende Tanzoperetten, denen man den Schmelz der Dichtung nicht mehr anmerkt, oder sie stellen jene unerträglichen Opernbesetzungen, in denen Koloraturen und Bravourarien produzierende, aber im übrigen stocksteife Marionetten vergebens bemüht sind, die Atmosphäre göttlicher Leichtigkeit und von aller Erdenschwere gelöster Märchenstimmung anzudeuten, die den Reiz Offenbachscher Kunst ausmacht. — — Das Phänomen dieser Stimme und der einzigartigen Sprechkunst wiegen schwerer als die technisch gefeilte Leistung der Tenöre und Soprane, deren Illusion uns aus der einen Kehle schöner ersteht, als die realen Stimmen sie zu zeugen wüßten. Es wäre müßig, den Eindruck der Erweckung Offenbachs durch die Kunst Karl Kraus’ schildern, der Stimmung, die Hunderte mit der Gewalt des künstlerischen Erlebnisses erfaßte, Ausdruck verleihen zu wollen. Die es hörten und erlebten, können es nicht in Worte fassen, den anderen, denen es versagt war, Zeugen und Miterlebende zu sein, sagt der Bericht nicht, was sie verloren haben.

Das von echtem Enthusiasmus erfüllte Publikum wurde nicht müde, seinem Beifall Ausdruck zu verleihen und den Dichter der herrlichen Zusatzstrophen wie den Interpreten Offenbachs zu feiern. E. F.

‚Arbeiter-Zeitung‘, Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, 23. Dezember, aus der »Auseinandersetzung mit Karl Kraus«:

Nichtbeachtung der Offenbach-Vorlesungen.

Darüber sagt Kraus, »daß die Arbeiter-Zeitung, die dem letzten bürgerlichen Operettenmist ihre erstaunliche Kunstrubrik offenhält, sein Wirken für Offenbach, das Kulturwerk seiner ganzen Vortragstätigkeit, ja seine besonderen Vorlesungen für Arbeiter mit keinem Ton beachtet«.

(Das hat Kraus nicht gesagt, sondern: daß es ihm sein Leben lang, also in der Zeit, da Herr Schober im Amte sitzt, nicht einfallen würde, darüber Beschwerde zu führen, daß u. s. w.)

Aber wenn wir über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders dächten? Wenn wir meinten, daß diese Kunst aus dem Geiste des dritten Kaiserreiches verklungen und vertan sei? Sicherlich wäre es, wenn ein Künstler wie Kraus an diese alten Operetten so viel Leidenschaft und Begeisterung wendet, unziemlich, ja anmaßend, sich da mit einer andern Meinung auftun zu wollen, aber Kraus versteht doch unter »Beachten« nicht eine Kritik, sondern ein unbedingtes Mittun; aber dabei wird doch wohl auch die eigene Meinung ihre Berechtigung haben. — —

Sagt die Arbeiter-Zeitung, die dem letzten bürgerlichen Operettenmist ihre erstaunliche Kunstrubrik offenhält. Wann hat sich die eigene Meinung gebildet, die, weil ich unbedingtes Mittun verlange,bescheiden vorgezogen hat, nicht zum Ausdruck zu kommen? Wer sind »wir«, die da heimlich bei »Blaubart«, »Großherzogin von Gerolstein«, »Pariser Leben«, »Madame l’Archiduc« und insbesondere bei den »Briganten« zugegen waren und sich achselzuckend abwenden mußten? Sind wir eine Redaktionskonferenz, die von vornherein zu dem Schlusse kam: »Was? Der will Offenbach wiederbeleben? Da tun wir nicht mit!« Wir denken anders? Aber vermutlich haben wir unter den anderen Sorgen, die wir haben, bisher keine anderen Gedanken, überhaupt keine bestimmten Gedanken über Offenbach gehabt, und — Hand aufs Herz, das wir doch auch haben — unser anti- musikalisches Ohr dürfte von ihm nebst dem Hörensagen, er sei der Musiker, zu dessen Kankan einst die Bourgeoisie tanzte, unmittelbar nichts als den Orpheus und die Schöne Helena empfangen, aber keineswegs behalten haben. Über die »Notwendigkeit« seiner Wiederbelebung — wiewohl in seinem Tanz auch der Vulkan inbegriffen war und ist — mag man sein Vorurteil haben; die »Möglichkeit« sollte nur der bestreiten, der sich schon von der Unmöglichkeit überzeugt hat. Ich — der es sein Lebtag zu keinem »Wir« gebracht hat — vermute jedoch, daß hier die journalistische Bereitschaft, die Unterlassungen der Lethargie und des wirkenden Schlieferltums nachträglich als Kunst- und Kulturansicht zu interpretieren, mit einem Federstrich eine Welt revolutionären Kunstbesitzes preisgegeben hat, wie in andern Punkten die Werte und Sachverhalte des Kampfes und der Ehre von Mitkämpfern. Und der Schutz dessen, wofür ich stehe und wofür ich danke, geht mir vor dem Lob dessen, was ich kann und was ich bin! Die Wiederbelebung Offenbachs vollzieht sich, auch ohne mein Wirken, kraft des Umstandes, daß er nicht gestorben ist, und keine Macht der Parteien könnte sich ihr widersetzen, mögen sie auch die Feindlichkeit einer Satire, die den Hohlraum der Gravität durchblitzt, mit noch so sicherem Instinkt herausspüren. Die textliche Erneuerung der »Briganten«, ein Werk der Kunst und des Kampfes, wäre für eine Kunstpolitik, die ihre Trägheit nicht als Standpunkt proklamiert, die Grundlage zu einer Volksbühne. Was mit dem französischen Kaiserreich verklungen und vertan ist, würde den Mächten der österreichischen Republik noch furchtbar lebendig klingen — uns Untertanen zum Entzücken!

Was es jetzt gibt

Nach einer Fahrt mit Hindernissen ist Kammersänger Bollmann — der Goethe in Lehars »Friederike« — Samstag abends in Wien eingetroffen ....

»Ich würde,« sagt Bollmann, »es als Arroganz empfinden, wollte ich den großen Dichter auf der Bühne darstellen. Nur den jungen Studenten Goethe zu verkörpern, habe ich mir vorgenommen. Ich will meiner Gestalt alle schwulstige Würde, alle be- drückende Schwere nehmen. Ich scheue mich keineswegs, im ersten Akt als Goethe sogar das Tanzbein zu schwingen. Dadurch habe ich auch die schauspielerische Möglichkeit, die Entwicklung Goethes vom Studenten zum großen Dichter im letzten Akt, der acht Jahre später spielt, anzudeuten. Mit dieser Auffassung, die ich einem eingehenden Studium des Lebens Goethes verdanke, stehe ich durchaus im Einklang mit der Auffassung Lehars selber. Und die Kritik hat mir bisher auch darin Recht gegeben: Nur so konnte sich der empfindsamste Goethe-Verehrer nicht verletzt fühlen. Die Rolle an sich macht mir ungemein viel Freude. Ich hatte seinerzeit Unrecht, als ich »Zarewitsch« für Lehars bestes Werk erklärte. Ich ahnte damals nicht, daß es noch eine Steigerungsmöglichkeit gebe. Nun aber sage ich: »Friederike« ist Lehars reifstes Werk ....«

Spezialmassage

Das ‚Neue Wiener Journal‘ hat in der jüngsten Zeit mir gegenüber einen Ton der Hingebung angeschlagen. Das ist die Folge strenger, aber gerechter Massage, die ich ohne Ansehn der Partei und Konfession allen besseren Herren von der Presse angedeihen lasse und deren Wirkung sich bald auch am ‚Abend‘ erweisen wird. Man hat beobachtet, daß sie sich in meinem Salon die Türklinke reichen, man hat auch die Instrumente aufgefunden, aber der Polizei ist es nicht gelungen, sie zu saisieren, weil sie selbst damit bedient wird. Lippowitz jedoch hat in den letzten Wochen auch Schläge vom Schicksal erlitten. Es ist ihm zwar geglückt, dem Gerichtssaal, dem er grundsätzlich in sämtlichen Funktionen fernbleibt, auch als Zeuge zu entgehen und die Möglichkeit zu vermeiden, mit dem Schatten seines ermordeten Redakteurs konfrontiert zu werden. Für 100 Schilling Disziplinarstrafe, die er noch knapp vor der Verhaftung einer Inserentin hereinbringt. Aber die in Ehrendingen feinfühlige Wiener Gesellschaft empfindet es doch nachgerade als unbillig, den Bekessy zu entbehren und den Lippowitz zu haben. Mit Schober steht er auf dem Neckfuß. Der liefert ihm Erinnerungen an Bela Kun zum Ersatz dafür, daß er ihm die einzige anständige Rubrik entvölkern möchte. Doch es gelingt ihm nicht. Denn wenn er täglich der Opfer zweie schlachtet — und glaubet an Liebe und Treue —, wachsen am nächsten Tag viere dazu, und Lippowitz behält sowohl den Polizeipräsidenten als die Delinquentinnen. Der Vorteil für ihn besteht auch darin, daß er täglich in der Gerichtssaalrubrik darauf hinweisen kann, daß »nach den Erhebungen der Polizei mehr erotische als reelle Massage betrieben« werde, was jene Leser der Annoncenrubrik, die ganz sicher gehen wollen, beruhigt. Mehr als das Geschäft hat immerhin das Ansehen gelitten, da es sich ja mit der Zeit doch herumspricht, worin jenes besteht. Er macht darum jetzt öfter den Versuch, mich auf seine Seite zu bringen, etwa indem er mich als einen Autor hinstellt, dessen Stoff das Privatleben von Wiener Persönlichkeiten bildet. Natürlich perhorresziert er solche Befassung nicht anders, als er die Tätigkeit seiner Inserentinnen beanstandet, sobald sie verhaftet sind. Er hat Telegrammspesen aufgewendet, um sich die Nachricht eines Berliner deutsch- nationalen Blattes übermitteln zu lassen, und gehofft, mir mit Lettern faustdick wie die Lüge den Gefallen einer Reklame zu erweisen, auf die ich als affärensüchtiger Schlüsseldramatiker doch ausgehe. Die Wahrheit an der Nachricht war, daß eine Nichtaufführung der »Unüberwindlichen« Herrn Schober erwünscht und dieser Wunsch der Vater des Gedankens ist, daß diesbezüglich der Castiglioni mit dem Einspruch vorangehen könnte. Ich höre fern die großen Stiefel trappen; nur daß sie diesmal der andere anhaben soll. (Schober macht alles, ob aber Castiglioni persönlich hervortreten kann ist zweifelhaft.) Nein, die Preußen lieben zwar einstweilige Verfügungen, aber so schnell schießen sie doch nicht. Die Nachricht — an der bloß richtig war, daß ich »Berlin mit meiner Anwesenheit beglücke«, da ich tatsächlich die »Briganten« vortrug — hatte eine maßvolle, wenngleich energische Behandlung zur Folge:

Neues Wiener Journal, 14. Februar:

Wir erhalten folgende Berichtigung: Im Vollmachtsnamen Karl Kraus’ fordere ich die Berichtigung der in Ihrer Nummer 12.635 vom Freitag, dem 25. Januar 1929, Seite 5, mitgeteilten, meinen Mandanten betreffenden Tatsachen gemäß § 23 Preßgesetz. Sie berichten unter dem Titel

Karl Kraus’ neueste Affäre.

Einspruch gegen die geplante Berliner Aufführung eines Schlüsseldramas aus der Wiener Gesellschaft, daß Karl Kraus »bereits wieder in eine neue Affäre verwickelt« ist,
indem »im Theater am Schiffbauerdamm als nächste Vorstellung im Studio die Satire »Die Unüberwindlichen« unter der Regie von Bert Brecht vorbereitet« wird, »ein Schlüsseldrama schlimmster Sorte, in dem führende Persönlichkeiten der Wiener politischen und Finanzwelt verunglimpft werden«, und »nun von seiten einer in diesem Stücke verspotteten Persönlichkeit Einspruch gegen die Aufführung erhoben und der Schutz, der nach dem reichsdeutschen Gesetz dem Privatleben gewährleistet ist, erbeten« wurde; »falls, woran nicht zu zweifeln ist, diesem Einspruch Folge geleistet wird,
müßte die Premiere unterbleiben«.

Die in diesem Bericht enthaltenen tatsächlichen Behauptungen sind unwahr. Es ist unwahr, daß »Die Unüberwindlichen« ein Schlüsseldrama aus der Wiener Gesellschaft sind, gegen welches einer der darin vorkommenden Persönlichkeiten nach dem reichsdeutschen Gesetz der Schutz des Privatlebens gewährleistet ist. Wahr ist, daß den »Unüberwindlichen« Vorgänge des öffentlichen Lebens, wie die Ereignisse des 15. Juli 1927, die Angelegenheit der Leumundsnote für Emmerich Bekessy und dessen publizistische Beziehungen zu führenden Persönlichkeiten der Wiener politischen und Finanzwelt zugrunde liegen. Es ist unwahr, daß von seiten einer in diesem Stücke ver- spotteten Persönlichkeit Einspruch gegen die Aufführung erhoben wurde. Wahr ist, daß ein solcher Einspruch nicht erhoben wurde.
Es ist somit unwahr, daß Karl Kraus bereits wieder in eine neue Affäre verwickelt ist. Wahr ist, daß er im Zusammenhang mit der geplanten Aufführung der »Unüberwindlichen« in keinerlei Affäre verwickelt ist. Es ist unwahr, daß als nächste Aufführung im Studio des Theaters am Schiffbauerdamm »Die Unüberwindlichen« vorbereitet werden. Wahr ist, daß dieses Stück als übernächste Aufführung vorbereitet wird und als nächste Aufführung »Wolkenkuckucksheim«, ein Versspiel auf Grundlage der »Vögel« des Aristophanes von Karl Kraus.

Dr. Oskar Samek.

*

Wir brauchen ein anderes Preßgesetz, dann werden solche Mißbräuche künftighin unmöglich sein. Kommentar überflüssig.

Der peinlich korrekte Abdruck und der bescheidene Zusatz sollten dem ‚Abend‘ ein Beispiel sein. Natürlich brauchen wir ein anderes Preßgesetz, und ohne Zweifel ist die totale Überflüssigkeit eines Kommentars noch nie so anschaulich und so rührend in Erscheinung getreten. Selbst wenn nicht gleich darunter etwas unter der Spitzmarke

e (Sind Sie niedergeschlagen,) abgespannt und nervös ....

empfohlen wäre, so wäre ich versöhnt und bereit, da dies alles ja in der Schoberwelt spielt, Treue um Treue zu bieten. Denn hier bekundet sich eine Ergebung, die wirklich dartut, daß die Massage doch kein leerer Wahn ist. Und weit und breit nichts als Resignation. Was soll man denn machen, wenn Schober einen Bericht aussendet, die Assistentin habe gestanden, daß sie an den Kunden des Salons

sogenannte »Spezialmassagen«

ausführte? Nein, das kann Lippowitz doch nicht an dem Tag erscheinen lassen, wo es hinten ohnedies schon mit so viel Wehmut des Abschieds heißt:

Letzter
Tag
Spezialmassagen

Mir sei nur noch die Bitte gewährt, im Bunde der Dritte zu sein und sie fortzusetzen.