486. Vorlesung am 25.02.1929

Wien
25.02.1929

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 25. Februar, 7 Uhr:

Shakespeare: König Lear, nach Wolf Graf v. Baudissin (Schlegel-Tieck’sche Ausgabe) und anderen Übersetzern vom Vortragenden bearbeitet.

[Die Fackel 806-809, 05.1929, 27] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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König Lear

Tragödie in fünf Aufzügen von Shakespeare

nach Wolf Graf v. Baudissin (Schlegel-Tieck'sche Ausgabe) und anderen Übersetzern vom Vortragenden bearbeitet

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Offenbach-Revue.

Uraufführung in den Münchener Kammerspielen.

Otto Falckenberg, dem die Ballung von Wedekinds Lulu-Tragödie in einen Theaterabend zu danken ist, suchte nach dieser großartigsten Leistung des Münchener Theaterjahres bei Offenbach Erholung, indem er durch Peter Scher vom »Simplizissimus« die Operette »Pariser Leben« in eine Art zeitpolitische Revue verwandeln ließ. Schers sprühender Witz und politische Schlagkraft gaben dieser nunmehr »Pariser Luft« getauften leichten Angelegenheit eine überaus amüsante Aktualität, die überdies dem Extemporieren der Schauspieler jeden Spielraum läßt. Nach Tairoffs Vorbild füllte Otto Reigbert die Bühne mit einem phantastisch-expressionistischen Aufbau, ähnlich dem Riesenrad des Wiener Praters, und diesen Mechanismus bevölkerte und befeuerte Falckenbergs Regie mit dem ausgelassenen Treiben eines zwischen Paris und München schwankenden Lebensfaschings. In der Achse des Bühnenkarussells hatte die Jazzband, um ein paar gemalte Karikaturen vermehrt, Platz genommen und trieb nach Kapellmeister Salomons Paraphrase mit dem genialen Musiker Offenbach ihren Ulk.
Dazu unter Führung des Wieners Karlweis Schauspieler, die als Operettensänger dilettierten, und im Publikum neben Frack und Gesellschaftskleid Maskenkostüme — so herrschte eitel Lust und Jubel über diese Wiedergeburt eines unsterblichen Spötters durch den witzigsten Spötter und den begabtesten Theaterleiter Münchens. Nur Polyhymnia klagt um ihren Liebling Offenbach. L. Adelt.

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Lieben Freunde, es gab schönre Zeiten,
Als die unsern, das ist nicht zu streiten! — —

Sehn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll still an uns vorübergehn. — —

Schiller, »An die Freunde«

»Die lustigen Weiber« können entweder überhaupt nicht mehr oder nur historisch oder, am besten, in radikal bearbeiteter Form gespielt werden: mit Benützung der Figuren und szenischen Grundrisse, aber mit neuem Text. Herbert Ihering.

Dieser Ausspruch des zweiten führenden Kritikers Berlins muß ohne Rücksicht auf den Umstand, daß er sich in der Sache des noch immer ersten führenden Kritikers anständig und relativ mutig betragen hat, aufbewahrt werden. Er enthält die Doktrin, von der jetzt die Konfektionsgilde, die sich des deutschen Theaterwesens bemächtigt hat, für die Beschmutzung Shakespeares, Nestroys und Offenbachs das reine Gewissen bezieht. Daß der Schmutz, gegen den keine Kulturgesetzgebung Abhilfe gewährt — denn der nationale und staatliche Kretinismus kennt diesen Begriff nur in den Belangen der Geschlechtsmoral —, daß der Schmutz just auf meiner Fährte abgelagert wird, ist eine ungeschriebene Zeittragödie, die noch der Verschandelung harrt. Allerorten spüren sie jetzt, daß die Reprisen meines Theaters der Dichtung irgendwie jenes »Zeitgefühl« ansprechen, dem man zu dienen glaubt, wenn man ihm mangels einer ihm entstammten Produktion den unabänderlichen Kunstwert aufopfert. So kommt nicht nur der Witz der an mich gestellten Zumutungen zustande — und es wäre schon eine abendfüllende Unterhaltung, wenn ich erzählen wollte, welche Pächter von hundert süßen Beinchen nun auf meine Offenbachs spitzen —, sondern auch der Greuel von Erneuerungen, die sich ohne meine Beihilfe abspielen. Die entfesselte Schrulle der Kunstgewerbler führt »Regie« über Nutznießer und Ausgebeutete eines Berufs, den gemeinhin nichts mehr mit der Theaternatur verbindet außer Lampenfieber und Preßfurcht.
Was sich da auf deutschen Bühnen unter dem Titel und Vorwand  von Werten begibt, die dem Aufmachertum, der Geldgier und einfach der bösen Lust preisgegeben sind, hat Formen angenommen, die das Problem abrücken aus der Betrachtung des künstlerischen in die des sozialen Verfalls als einer Prostitution der mitwirkenden Menschenleiber. Der »neue Text«, den der führende Kritiker noch vermißt, ist beiweitem überboten von der Schmach, die dem alten angetan wird, wobei sich freilich auch die Unwissenheit einer konservativeren Kritik bewähren kann, die die erhaltenen Reste nicht erkennt und dem Bearbeiter zuschreibt. Als sie in Berlin »Troilus und Cressida« (lies: Kessida) aufmachten, staunte diese Kritik, daß da ein Trojanerheld per »Lord« angesprochen wird, und bei den »Lustigen Weibern« hält sie es für Modernisierung, daß von einem Windhundrennen die Rede ist und das Wort »Verkohlen« vorkommt. Im übrigen ist sie aber doch auch der Ansicht, daß dieses entzückendste aller Lustspiele — dessen Falstaff seit jeher als eine Verwässerung der Heinrich-Gestalt verkannt wird — keines der Güter sei, die »gegen Einbrüche dreister Regie umgittert zu werden brauchen«. Gemäß dieser Toleranz der Alten wie jener Diktatur der Jungen lebt sich der Unfug einer Theaterreformerei aus, die die Erkenntnis befestigen konnte, daß »die Spree noch mehr Dreck hat« als das Donauwasser, freilich nicht ohne Berücksichtigung des Umstandes, daß eben dorthin ein Abfluß aus der Brigittenau erfolgt ist. Unverwirrt von der Betrachtung dieser Dinge und von dem Widerwillen, der mich beim Betreten eines Berliner Theaterraums erfaßt — denn dort gehe ich noch ins Theater —, gestaltet sich das »Theater der Dichtung«, von welchem das der Vernichtung sein Repertoire bezieht. Es gestaltet sich vor einer kleinen Welt, der eine Kunstführung, die zugleich Lehre und Beispiel bot, den Zusammenhang mit lebendigen Dingen bewahrt hat. Sie wird darum nicht, gleich jenem neudeutschen Wesen, an dem zu allerletzt die Kunst genesen wird, »Pathos« dort beanstanden, wo eine Welt jenseits der Zeitkommis die Sprache ihrer höheren Natur spricht, und wird es nicht durch eine »Sachlichkeit« ersetzt wünschen, deren Fläche Raum für jederhand ornamentalen Unfug hat. Was die Bearbeitung Shakespeares für das Theater der Dichtung anlangt, so kann dem »Zeitgefühl«, von dem die Aktualität allen Rückstands besessen ist, nach wie vor kein anderes Zugeständnis gemacht und kein anderes Opfer dargebracht werden als dasjenige, das in der Reduktion des Dramas auf einen Theaterabend besteht. Solcher Bearbeitung — und jede andere scheidet aus dem Kulturbereich als Blasphemie am Original, als Frechheit gegen den Sprachbesitz der Schlegel-Tieck’schen (Mommsen’schen) Übersetzung — habe ich bisher zehn Shakespearedramen unterzogen: König Lear, Hamlet, Macbeth, Timon von Athen, Coriolan, Troilus und Cressida, Das Wintermärchen, Maß für Maß, Verlorne Liebesmüh, Die lustigen Weiber von Windsor (nebst Teilen von König Johann und der Heinrich VI.-Trilogie). Geringfügige szenische Umstellungen und Vereinfachungen, gelegentliche Verwendung von eigenen und Zeilen der Vossischen Übersetzung — es bleibt unerheblich neben dem, worauf es einzig ankommt: von hundertzwanzig Seiten dreißig zu streichen, und so zu streichen, daß kein »szenischer Grundriß« berührt, kein edlerer Teil des sprachlichen Organismus verletzt und nur das entfernt wird, was an dieser hypertrophischen Welt dem heutigen Erfassen als Wucherung erschiene. Solche Arbeit von Vers zu Vers und durch alle Verschlingungen der Prosa durchzuführen, setzt den wahren Regisseur des Worts und der Szene voraus. Keiner der Auslagenarrangeure, die auf den heutigen Bühnen mit der Notzucht am Geiste betraut sind, wäre zu dieser Arbeit fähig, keiner der Theoretiker, die ihnen Mut machen zur »Benützung der Figuren«, wäre auch nur des sprachkritischen Gefühls fähig, wie es nur geschehen mag, daß der erhaltene Wert die Verminderung der Quantität nicht spüren läßt. Ganz gemäß diesem Zustand wird kein Besucher des Theaters
der Dichtung es bemängeln, daß dessen Direktor, Regisseur und Mitwirkender vorläufig darauf verzichtet, Shakespeare mit neuem Text zu spielen. Und vollends keiner, daß er auch auf die Theaterkritik verzichtet.

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Wirkung der Fackel auf die revolutionäre Geistigkeit

Für den 9. und 10. März hat Henri Barbusse einen antifaschistischen Kongreß nach Berlin einberufen. Und in der Reihe der Redner, die »schon an der Seite Barbusses stehen«, ist an zweiter Stelle der Alfred Kerr genannt, vaterländischer Denunziant, anonymer Bundesgenosse des Tiroler Antisemitenbundes, Besudler des ermordeten Liebknecht, Tischfreund der ungarischen Regierung, Kriegs- und Friedensdichter, mit einem Wort der größte Schuft im ganzen Land. Unter dieser Fahne wird von der Freien Vereinigung sozialistischer Studenten die Wiener revolutionäre Studentenschaft zum Kampf gerufen.

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