491. Vorlesung am 14.03.1929

Wien
14.03.1929

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 14. März, ½8 Uhr:

Offenbach: Blaubart.

[Die Fackel 806-809, 05.1929, 54] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Blaubart

Operette in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach

Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp revidiert von Karl Kraus

[...]

Das Höflingslied des Grafen Oskar mit neuen Zeitstrophen

Begleitung: Georg Knepler

Ein Teil des Ertrags fällt der Steuerbehörde zu, da für die durch die Jahre wohltätigen Zwecken gewidmeten Erträgnisse nachträglich die Steuer gezahlt werden muss.

[...]

Antwort an Arbeitervereine

12. März 1929

Sehr geehrte Herren!

Wir danken Ihnen für Ihre wiederholte und am 7. März erneuerte ehrende Einladung, insbesondere für den Ausdruck Ihrer Überzeugung, daß »eine Vorlesung am Weltfeiertag des Proletariats die größte Freude bei der Arbeiterschaft auslösen wird«. Wir können Ihnen nur mit der Versicherung antworten, daß es die größte Freude des Herrn Karl Kraus wäre, auch an jedem andern Tag vor der Arbeiterschaft zu lesen, und daß er vor keinem anderen Auditorium lieber als vor diesem liest. Leider ist ihm aber solche Freude verwehrt, solange eine sozialdemokratische Veranstaltung, die dieses ihm so erwünschte Auditorium versammelt, nicht den Auffassungen, die das Zentralorgan der Partei in der letzten Zeit von seinem Wesen und Wirken der Arbeiterschaft vermittelt, vernehmlich und unmißverständlich widerspricht. Da es Ihnen, wiewohl Sie »die Wahl des Themas« ausdrücklich ihm überlassen, wohl nicht erwünscht wäre, daß der Vortragende den Hörern die ihm unerläßlich scheinende Aufklärung über die an ihm verübten Wahrheitswidrigkeiten wie insbesondere über die Verletzung der Ehre selbstloser Mitkämpfer erteilt, er sich aber bei der Wahl des Themas keiner Zensur unterwerfen könnte, so bliebe nichts übrig, als daß der Veranstalter selbst den Widerspruch zwischen der Freude der Arbeiterschaft, Herrn Karl Kraus zu hören, und der Haltung des Zentralorgans, das sie doch anders zu beeinflussen sucht, eindeutig feststellt. Und zwar so, daß die Unwirksamkeit eines Einflusses, der der Wirkung des Vortrags sicherlich nicht im Wege stehen könnte, vom Vortragenden aber doch als Hindernis empfunden wird, ein für allemal besiegelt erscheint, indem an die zuständige Adresse erklärt wird, daß »Auseinandersetzungen«, die mit so geringem Aufwand von Wahrheitsliebe unternommen werden, an der Stellung der Arbeiterschaft zum Wirken des Herausgebers der Fackel so wenig ändern können, wie an seiner Stellung zur Arbeiterschaft.

Mit dem Ausdruck der vorzüglichsten Hochachtung
Der Verlag der Fackel
als Verwalter der Vorlesungen Karl Kraus

*

Empfang der Kolporteure des Schober-Lieds auf dem Polizeikommissariat

Staatsanwaltschaft Wien I
St I 96/29

An Herrn
R. A. Dr. Oskar Samek
noe Karl Kraus

Die Staatsanwaltschaft Wien I findet keinen Grund zur Verfolgung der Unb. Täter wegen Verbr. des Mißbrauches der Amtsgewalt aus Anlaß der von Ihnen gegen dieselben einge-
brachten Anzeige.

Hievon werden Sie gemäß § 48 Zahl 1 St. P. O. verständigt.
Staatsanwaltschaft Wien I
am 6. III. 1929

Unleserlich

Offenbach und der Troglodyt

Eine Geschichte, wie die orpheusartige Macht dieser Lyra Bestien bezwang und Troglodyten bezauberte. Als eben das Schober-Plakat erschienen war und in sämtlichen Bezirken Wiens Säbelklingen am Papier dem Wunsch, daß er abtrete, deutlich widersprachen — zugleich mit jenen Weisungen, wie sie die bodenständige Sinnesart sonst an Abtrittswände zu schreiben pflegt —, eben damals war die süße Madame l’Archiduc in Vorbereitung, die Gestalt einer unwahrscheinlich fernen Gegenwelt zu der Welt, in der diese Dinge spielten. Vor ihr Schwert und Leier in derselben Hand zu halten, ist ein Verhängnis; unmöglich schien es, ihr ohne Gefahr für das Tonwerk dieses entgegenzuhalten. Ein polemischer Vortrag aus dem Sinn des Plakates war damals noch nicht ausgereift; er hätte mich allen Zagens vor dem gefühlten Widerstand des Hasses überhoben, mich für die Sphäre völlig freigemacht. Um den Schatz von Tönen, dessen Darbietung nun einmal an den Termin gebunden war, wurde mir bang. Da noch nie in solcher Laun’ eine Muse gefreit ward, hatte ich zum erstenmal im Leben Lampenfieber. Es war ruchbar geworden, daß etwa dreißig Troglodyten sich versammelt hatten, um Schober an Offenbach zu rächen. Gestalten, wie man sie bei solcher Gelegenheit nicht zu sehen gewohnt ist, denn es gibt keine Offenbacharier. Die Kulturschutztruppe, die etwa »gegen die Vernegerung der Oper« kämpft, verächtlich durch ihr Versagen gegen das Gewaltjudentum in Wirtschaft und Kunst, hassenswert im Bezirk des Geistes. Gestalten, wie sie seit Einführung des christlich-germanischen Schönheitsideals als dankbare Empfänger im Teutoburgtheater sitzen und sich über den Maierhofer totlachen. Hier hatten sie keine kulturelle, sondern nur eine moralische Mission zu erfüllen; es ging um das Letzte, was ihnen geblieben war: Schobers Ehre. Das Gerücht, sie hätten Stinkbomben mitgebracht, war übertrieben; es beruhte auf dem Umstand, daß sie selbst da waren. Wie würde sich das entwickeln? Gewiß, es ist fast schon von Offenbach selbst, sich mit dem Heitersten und Beschwingtesten, was menschlicher Geist hervorgebracht hat, etwa den Begriff »Belange« in denselben Raum gestellt zu denken; aber es blieb doch der ungestaltete Kontrast, und schon das Gefühl dieser Fremdkörperlichkeit, die dumpf brütend und offensiv dasaß, strangulierte die Stimmung. Mit dem Wort hätte ich es durchstehen können; für den Einsatz zu einer Melodie, im Sekundendienste wahrster Geistesgegenwart, konnte ich keinen Rülps brauchen. Die vorgelagerte Ouvertüre war vielleicht kein zureichender Wall; der Augenblick des Auftretens brächte die Entscheidung… Es war wie immer, und mit noch gesteigerter Bereitschaft der Mitfühlenden. In dem Beifallsorkan, der den Vorleser — eben aus der Stimmung jenes Zeitpunkts herausempfing, erstickte rollend und grollend die angesammelte Wut, die vorschriftsmäßige und gleichwohl echte, und mit dem Bürgersinn, der um ein Spektakel betrogen war, löste sie sich in Atome auf. Nur Sitznachbarn hörten noch, wie ein Cherusker aus Krems den mitgebrachten Gedanken verseufzte: »Ich furdere Sie aaf, abzutanzeen!« Ob es derselbe Troglodyt war, der in einem Zwischenakt jenes unvergängliche Wort von sich gab, das ich überliefern will, war nicht festzustellen. Doch es konnte nichts mehr geschehen, und selbst die Gefahr, daß die unverbrauchte und noch voll und ganze Gesinnung sich am Entree des Erzherzogs oder an den Improvisationen über den Ordnungsgreuel entschädigen möchte, ging vorüber. Musik und Vortrag waren geschützt, denn ihr Schutz war die eigenste Wirkung auf die Mehrheit. Die Troglodyten, auf den ersten Blick als solche erkennbar und preisgegeben, wußten nicht, wie ihnen geschah, und mußten tatlos ausharren. In dieser umgekehrten Welt mochten sie wirklich Nibelungengefühle im Hunnenlager erleben. Ein in Ruhestand versetzter Terrorist — unvorstellbare Seelenpein — wurde vorzüglich beobachtet. Eine Gruppe aus dem Tartarus saß in der dritten Reihe: jener dumpf brütend zwischen zwei Wesen, die in der Sprache des bodenständigen Humors »Weibsen« genannt werden und durch einen Strudelbelag auf dem Haupt gegen den Zeitgeist demonstrierten, dessen Abscheulichkeit allerdings durch die Prägung des Wortes »Bubikopf« beglaubigt ist.
Sie saßen da, von Schönpflug entworfen, nunmehr sich selbst überlassen, der Ödigkeit ihres Daseins voll und ganz ausgeliefert, glupsch, mit nach dem Heimboden gesenktem Blick. Außer Dienst. Der Manne litt sichtlich am tiefsten, umso tiefer, als sich ein Gefühlskontrast zu den Nachbarinnen auftat. Es muß derselbe gewesen sein, den ich, als am zehnten Republiktag vor den Wachleuten defiliert wurde, mit einer Begleiterin sah, die, immerhin der Natur noch etwas näher stehend, einen unwilligen Ruck machte, als sie ein Wachmann zum Weitergehen animierte; der Ritter gab ihr, um das Gebot der Ordnung zu stützen, einen Puff in die Lende. Vorher war er im vierten Akt der »Unüberwindlichen« aufgetreten, zum Schutz der Polizei gegen den ermordeten Knaben. Derselbe muß es gewesen sein, der im Mittleren Konzerthaussaal tatlos dasaß zwischen den Seinen. Ein Schlachtgemälde, in ein Stilleben verwandelt. Wie sie nun die Köpfe hangen ließen, vernahm man auf einmal einen Dialog, kurz, gedrängt und doch von innerster Fülle. Die eine sprach, so für sich hin, aber ganz ungesucht, etwas, das dem Eindruck von einer fremden Welt gerecht zu werden schien, denn wo hatte sie je zuvor Ähnliches gehört und wie ganz anders geartet war doch die Vorstellung, mit der sie in den Saal gekommen war. Den Blick gesenkt, zagend vor dem, der ihr’s schon zagen konnte, erlaubte sie sich die Feststellung: »No — eigentlich gfollt er ma gonz guat — —«. Ein Lebenszeichen. Ohne die Miene zu verziehen, den Blick starr nach dem Orkus gerichtet, unbewegten Tonfalls, sprach der Troglodyt, energisch und doch maßvoll, nur ein Wort: »Haltigoschn.« Sich vorzustellen, daß in demselben Raum ein Lied des Fortunato hörbar wurde, ist keine Kleinigkeit.