516. Vorlesung am 18.10.1929

Berlin
18.10.1929

[Karl Kraus las im Bechstein-Saal am] 18. Oktober, ½8 Uhr:

Blaubart (»Zu Ehren Offenbachs«).

[Die Fackel 827-833, 02.1930, 42] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Blaubart

Operettte in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach

Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp revidiert von Karl Kraus

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Nach dem 1. und dem 2. Bild eine längere, nach dem 3. eine kurze Pause.

Mit Zeitstrophen im Höflingslied des Grafen Oskar

Begleitung: Georg Knepler

Die Gestaltungen der geistigen Welt Offenbachs müssen und wollen den Anspruch auf eine musikalische Interpretation im streng technischen Sinne unerfüllt lassen. Die Wiedergabe erfolgt ohne Kenntnis der Notenschrift.

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Notiz des Wiener Programms

Bei einem Berliner »Blaubart«-Vortrag war es das Aufsehen des Saales, daß ihn unter anderen fünf Gebrüder Rotter füllten. Unmittelbar danach erschien die Zeitungsmeldung, daß sie »Blaubart« zur Aufführung angenommen hätten. Diese ist nunmehr erlebt worden und ihre eigentliche Sensation soll der Umstand sein, daß keine Verjazzung stattgefunden und die muntere Laune der Regie sich lediglich in der mutwilligen Umstellung von Musikpartien betätigt hat. Einem Feuilleton des Herrn Paul Goldmann in der Neuen Freien Presse ist zu entnehmen, daß »Blaubart« der neudeutschen Inszenierungspest glücklich entronnen ist. Ein unerbittlicher Schützer von Kunstdenkmälern, beklagt er in diesem Zusammenhang:

(Die letzte Berliner Modernisierungsuntat war eine Verjazzung der »Lustigen Witwe«)

— ein Frevel, den der Meister gewähren ließ und für den er die deutsche Nation bald durch Goethe als Tenor und Lenz als Thaddädl entschädigt hat. »Blaubart« scheint nach allem, was man über die Berliner Aufmachung liest und hört, auf das Niveau der ursprünglichen »Lustigen Witwe«, also eines seriösen Musikdramas, gehoben worden zu sein, und der Programmschmock sieht dem Werk, das »in die Operette umgebogen war, sein wahres Gesicht wiedergegeben«. Also ein Bühnendreh, sozusagen eine Repetite. Schon aus einem Artikel des Herrn Slezak über die Probenarbeit war zu entnehmen, was da geplant wurde; er rühmte die von den Gebrüdern Rotter ersonnene Form:

die dem heutigen Geschmack entspricht und vor allem Übertreibungen und groteske Textstellen in logische, die Handlung fördernde, dem Zuhörer Klarheit gebende verwandelt.

Da der Unfug nach Wien verpflanzt werden soll, so wird man zu beurteilen vermögen, bis zu welchem Grade Offenbach mit heutigen Bühnenmitteln auch ohne Verjazzung verschandelt werden kann. Wahrscheinlich wird immer der Rat angebracht sein, daß die großstädtischen Theaterdirektoren, wenn ihnen schon das »Theater der Dichtung« unerreichbar ist, nach Stendal reisen mögen, wo sie — vor dem wunderbarsten aller Offenbach-Wunder, der »Madame l’Archiduc« — die wahre Pietät lernen können, die für solche Erweckungen erforderlich ist. Herr Paul Goldmann beklagt die Humorlosigkeit der Berliner Aufführung und meint, deren Leiter hätten anscheinend nicht gewußt, daß Leo Slezak nicht nur ein großer Sänger ist, sondern auch ein großer Humorist — oder sie haben, weil eben »ernst« gespielt werden sollte, ihn an der Entfaltung seiner komischen Gaben gehindert.

Alles hat seine Vor- und Nachteile. Freilich wird Offenbach durch Humorlosigkeit umgebracht, aber man stelle sich erst vor, was im gegenteiligen Falle passiert wäre. Die Berliner Hörer haben es leicht, sich das vorzustellen, wenn sie sich in Berliner Leser verwandeln. Herr Slezak, von den wohlinformierten Gebrüdern Rotter gefesselt, ist um Entschädigung nicht verlegen, indem er im Berliner Tageblatt gleich neben der Annonce des so verkürzten »Blaubart« die folgende erscheinen läßt:

Leiden Sie an Verdauungsbeschwerden ?
dann lesen Sie die Bücher von LEO SLEZAK:
»MEINE SÄMTLICHEN WERKE«
UND »DER WORTBRUCH« Sie werden
lachen und das wird Ihrer Verdauung gut tun.

Man versuche sich — ohne die Verdauungsbeschwerden, die doch eben beseitigt werden sollen, zu provozieren — man versuche sich einmal zu vergegenwärtigen, daß auf die Dämonie der Blaubart-Gestalt dieser Humor losgelassen würde! Rotters — die eben gehört hatten, daß Offenbach ernst zu nehmen sei — Rotters seien gesegnet.

Berlin, 17. Juli 1929

Noch unter dem bitteren Eindruck der Rotter’schen Blaubart-Aufführung, bei der die »Zaubergeige«, die in Ihren Versen an Offenbach vorkommt, als rohe Pauke zu hören und neben anderen Schauderhaftigkeiten die »gruftbefreiten Frauen« als angetrunkene Barmädchen zu sehen waren, schreibe ich diese Zeilen.

Zwar hätte ich durch die »Fackel« genugsam davor gewarnt sein müssen, einer solchen Aufführung beizuwohnen, doch trieb mich nach langen, meist außerhalb Europas verbrachten Jahren die Sehnsucht, Offenbachmusik von einem Orchester zu hören. Es war schmerzlich, auch dabei so viel Vergewaltigung und Gefühllosigkeit zu erleben. — —

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