518. Vorlesung am 28.10.1929

Berlin
28.10.1929

[Karl Kraus las im Bechstein-Saal am] 28. Oktober, 8 Uhr:

Ansage. — Offenbach-Renaissance.

Fortunios Lied.

Die Insel Tulipatan.

Begleitung: Eugen Auerbach.

[Die Fackel 827-833, 02.1930, 42] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Offenbach Renaissance. Von Karl Kraus

THEATER DER DICHTUNG

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Fortunios Lied

Komische Oper in einem Akt von Jacques Offenbach

Text von Hector Cremieux und Ludovic Halévy. Nach der Übersetzung von Ferdinand Gumbert bearbeitet von Karl Kraus

Die Pariser Uraufführung 5. Januar 1861 im Théâtre des Bouffes- Parisiens. Erstaufführung im k. k. priv. Theater am Franz Josef-Quai (Zum Vorteile der Frau Anna Grobecker: »Meister Fortunio und sein Liebeslied«; in der unauffindbaren Übersetzung von Carl Treumann) 25. April 1861. (Später im Carl-Theater, daselbst »neu in Szene gesetzt« 14. Januar 1881: Fortunio Blasel, Valentin Antonie Schläger.) Das folgende Personenverzeichnis enthält die Namen des Originals und des Wiener Textes:

[...]

Mit Zeitstrophen im Couplet des Paul vom »Kleinen Advokaten« und im Couplet der Schreiber vom »Dazumal«

(Ein Klavierauszug mit der Übersetzung von F. Gumbert bei Bote & Bock, Berlin.)

Die Insel Tulipatan

Burleske Operette in einem Akt von Jacques Offenbach

Text von Henri Chivot und Alfred Duru. Nach dem Original und der Übersetzung von Ferdinand Gumbert bearbeitet von Karl Kraus

Personenverzeichnis der Wiener Erstaufführung 5. Mai 1869 im Carl- Theater (»Unter persönlicher Leitung des Compositeurs«) — in der unauffindbaren Übersetzung von Julius Hopp mit dem Titel »Tulipatan« und den Personennamen Cactus XXII., Oleander, Ficus, Aloë und Azalea — und der Pariser Uraufführung 30. September 1868 im Théâtre des Bouffes-Parisiens:

[...]

Mit Zeitstrophen im Couplet des Cacatois von der »Zeitungsente« und in der Barcarole am Schluß

(Der fragmentarische Originaltext bei Rouart, Lerolle & Cie, Paris, ein Klavierauszug mit der Übersetzung von F. Gumbert bei Bote & Bock, Berlin.)

Begleitung: Eugen Auerbach

Die Gestaltungen der geistigen Welt Offenbachs müssen und wollen den Anspruch auf eine musikalische Interpretation im streng technischen Sinne unerfüllt lassen. Die Wiedergabe erfolgt ohne Kenntnis der Notenschrift.

Notiz des Wiener Programms

Das Sujet der entzückenden »Insel Tulipatan« wurde mit Benützung und Verstümmlung einiger Melodien und einer barbarischen Zusammenstoppelung von Motiven aus »Perichole«, »Kakadu«, »Die Briganten«, »Blaubart« etc. zu einer Novität »Die glückliche Insel« von Leopold Schmidt (Text von Oscar Blumenthal) verarbeitet, die im Juni 1918 in der Wiener Volksoper herauskam. Sie hat mit Offenbach so wenig zu schaffen wie der dort gleichfalls aufgeführte »Goldschmied von Toledo«, vor dem der französische Biograph als einer »imposture« warnt und dessen sich nunmehr die »Ravag« annimmt. Diese hat kürzlich auch den Einfall ausgeführt, eine Zusammenstellung unter dem Titel »Aus Offenbachs Musterkoffer« zu bieten, da sie offenbar vermutet, daß Offenbach ein Konfektionsreisender gewesen sei, den man heute überallhin »senden« könne. — Erwähnt sei, daß im Duett Romboidal-Hermosa ein parodistisches Zitat aus der »Jüdin« vorkommt.

Es gibt eine überwältigend banale deutsche Offenbach- Biographie von Paul Bekker (»Die Musik«, herausgegeben von Richard Strauß, 31. und 32. Band), die nur im rein musikkritischen Teil das Niveau der lebensläufigen Reportage verläßt. Eine der besseren Stellen enthält die folgende Würdigung und Inhaltsangabe von »Fortunios Lied«:

Als klassisches Muster dieses Genres ist »Fortunios Lied« anzusehen — eines der reizvollsten und stilistisch einheitlichsten Werke der musikalischen Weltliteratur. Die Handlung zeigt wieder jenes eigentümliche Schweben zwischen lyrischen und humoristischen Stimmungsmomenten, welches Offenbachs Natur so außerordentlich zusagte. Meister Fortunio, der Advokat, hat einst in jungen Jahren ein Lied gedichtet und gesungen, welchem kein Frauenherz zu widerstehen vermochte. Doch nun als würdiger Ehemann und ehrsamer Rechtspfleger will er nichts mehr von seinen Jugendstreichen wissen. Das Lied ist verschollen, Fortunios einst umschwärmte Frau verkümmert in der Enge des häuslichen Daseins, seine Schreiber werden schroff behandelt und geschulmeistert. — — Doch aus seinen eigenen Taten erwächst das Verhängnis. Das verloren geglaubte Lied wird unter einem Stoß alter Akten entdeckt und dem ahnungslosen Fortunio entwendet. Frohlockend teilen es seine Schreiber sich gegenseitig mit, neugierig stimmt es jeder von ihnen vor seiner Schönen an und — Wunder der Zeit — das Lied hat seine Zauberkraft bewahrt. Es ist der Talisman geblieben, dem sich die Frauenherzen öffnen. Die Melodie revoltiert die ganze Umgegend. Die Magie des Liedes erfüllt alle mit Liebessehnsucht, und Fortunio, der unfreiwillige Anstifter der Verwirrung, muß es erleben, daß seine eigene Frau mehr an dem Liede hängt als an dem Verfasser und nun einem jugendlichen Sänger — Fortunios Schreiber Valentin — ihre Blumen spendet.

Eine derart zauberkräftige Melodie, ein solches Hexenlied zu erfinden, war keine leichte Aufgabe für den Komponisten. Und doch hat er sie mit vollendeter Kunst gelöst — denn in der Tat fühlt man sich geneigt, der Offenbachschen Musik eine so einflußreiche Wirkung zuzutrauen. Diese Empfindung mochte den Komponisten wie die Zeitgenossen erfüllen. Fortunios Lied war einer der größten Erfolge, welche Offenbach je erlebte und zugleich sein eigenes Lieblingswerk. Erst später, als er mit den Entwürfen zu »Hoffmanns Erzählungen« beschäftigt war, trat diese Vorliebe gegen den Enthusiasmus für das neue Werk zurück. Bei seinem Tode aber konnten es sich seine Freunde nicht versagen, des Fortunio zu gedenken. Als in der Madeleine die Leichenfeier stattfand, erklang vom Chor Fortunios Lied zu den Worten der Totenmesse.

Über dessen Entstehung berichtet die Biographie von Louis Schneider (Librairie académique Perrin et Cie):

Offenbach, lorsqu’il était, en 1847, chef d’orchestre à la Comédie- Française, avait improvisé pour le Chandelier, d’Alfred de Musset, une très jolie romance pour le remarquable Fortunio, Delaunay. Mais Delaunay, dont la voix parlée était si caressante, si musicale, si féminine, possédait l’organe le plus âpre, le plus rocailleux, le plus froid quand il s’agissait de chanter. Au bout de deux ou trois représentations du Chandelier, Delaunay décida de supprimer la melodie d’Offenbach. Ce fut un crève-cœur pour le musicien. Il s’en ouvrit un beau jour à Hector Crémieux et Ludovic Halévy, et les deux librettistes lui apportèrent, quarante-huit heures après, le plus joli canevas qui se pût imaginer pour faire chanter le bataillon mutin des petits clercs de maître Clavaroche.

En huit jours fut écrite la partition, en huit jours elle fut répétée. Le 5 janvier 1861, mesdemoiselles Pfotzer, Baudoin et Chabert, avec Désiré et Bache, affrontaient le feux de la rampe. Mais la romance de Fortunio, qu’avait essayé de chanter Delaunay aux Français, n’existait plus. Que s’était-il passé?

Mademoiselle Pfotzer, qui créa avec tant de grâce le rôle de Valentin, sortait du Conservatoire, où elle venait d’obtenir le premier prix de chant. Née à Marseille, elle avait gardé un accent de terroir qui avait le don de déplaire à Offenbach. Comment y remédier? Le compositeur interrompit un jour la répétition, se réfugia dans son cabinet directorial et, une demi-heure plus tard, il en revenait avec un autre air plus mélodique, plus musical que celui qu’il avait écrit jadis pour Delaunay, mais où le chant, cette fois, avait le pas sur la parole. Il avait suffit d’une demi-heure …… et d’une étincelle de génie pour faire naître un pur chef-d’œuvre. (Je tiens ces détails d’Hortense Schneider qui aimait à les conter pour montrer combien le musicien était homme de théâtre et à quel point son improvisation était féconde.)

Le succès de la Chanson de Fortunio dépassa, le soir de la première, tout ce que l’on pouvait, imaginer: la partition fut jouée deux fois; elle l’eût été trois fois, si l’on n’eût redouté une contravention; car la police des théâtres n’entendait pas qu’on plaisantât avec l’heure de la fermeture des théâtres.

Der Autor erwähnt — nach der älteren Biographie von J. Martinet (Jacques Offenbach, sa vie et son œuvre, Paris, Dentu et Co.) — die Totenfeier: »funérailles à la Madeleine, auxquelles tout ce qui comptait dans Paris prit part, où la Chanson de Fortunio fut exécutée au grand-orgue au milieu de l’émotion et même des larmes des assistants«.

Die Aufnahme von »Fortunios Lied« in das Theater der Dichtung — neben der musikalisch nicht minder köstlichen, jedoch operettenhafteren »Insel Tulipatan« — erfolgt hauptsächlich zur Rehabilitierung des Werkes, dessen Gestalt für jeden unvorstellbar wurde, der es in der unvorstellbaren Gestalt der neulichen »Ravag«-Vorführung erlebt hat. Die »Sendung«: den Äther mit Dilettantismus zu verpesten (die namentlich von Wien ohne jede Rücksicht auf den Fremdenverkehr durchgeführt wird) schien hier in einer vorbildlichen Weise erfüllt. Der Zauber der Musik — insbesondere der süßen Romanze, die nunmehr in ganz anderm Sinn zum Grabgesang ihres Schöpfers wurde — war bis zu einem Grade leharisiert, daß die Verwirklichung der Offenbach-Renaissance durch die heutige Bühne als ein Ziel erschien, aufs innigste zu verwünschen. Was da an Knödeln serviert wird, wenn die Wiener Hausgeister ihr Zepter schwingen und die Bouffonen auf Offenbach losgelassen werden, das ist gar nicht zu sagen. Der Text von »Fortunios Lied«, dessen Wirklichkeit wie bei den meisten Einaktern in die Geistigkeit dieser Musik nicht aufging, ist immerhin ein französisches Singspiel (und nicht ganz so dürftig wie etwa »Die Verlobung bei der Laterne«, »Die Zaubergeige« und »Das Mädchen von Elizondo«, die mit aller musikalischen Pracht für den Vortrag nicht zu retten wären). Nun ermesse man den Grad der Wehrlosigkeit eines Radiohörers — und ich tue mir das selten genug um und an —, der den eifersüchtigen Notar Fortunio, welcher »dazumal« doch ein Cherubin war, statt der Spuren im Kies solche im Kas finden läßt, den er natürlich sofort korrigiert. Auf diese Art hofft man das Ausland für die Eigenart des hiesigen Wesens zu gewinnen. Die technische Unvollkommenheit der Errungenschaft, die einen Einspruch an Ort und Stelle nicht ermöglicht, ist durchaus zum Asyl der schöpferischen Minushaftigkeit des heutigen Theaters geworden. Die Krüppelkunst, die sich da entfaltet — und welche Heroen der Bühne wären nötig, um Gehörtes schaubar zu machen —, sie bemüht sich nicht einmal um den äußeren Ersatz der visuellen Wirkung. Der ganze Sinn der Fortunio-Geschichte beruht in der graziösen Pantomime des Schlusses, wie die Gattin des eifersüchtigen Notars vom Balkon eine Rose zu Valentins Füßen niederfallen läßt; anders ist der Erfolg des Zauberlieds nicht zu gewahren. Das Radio verleugnet ihn ebenso wie den Witz der Situation, wie einer der Schreiber nach dem andern am Arm des Mädchens erscheint, das er durch das Lied gewonnen hat.
Durch die Ravag empfängt man, kümmerlich genug, das Lied, nicht das Bewußtsein von dessen Wirkung, zur Not die Kenntnis von dem Verdruß des Notars. Keines der Eselsohren, die da geduldig gelauscht haben, konnte dessen gewiß werden, daß das Zerflattern der Handlung auf eine Pfuscherdramaturgie zurückzuführen ist, die nicht einmal spürt, wo das Wort die Erscheinung zu ersetzen habe. Aber was liegt schließlich an der Verkümmerung eines textlichen Schauplatzes, wenn die akustische Möglichkeit, Offenbach zu verschandeln, unbeeinträchtigt bleibt. Und da wird sich, solange keine Kulturgesetzgebung den Theaterhändlern in den Arm fällt, nichts machen lassen. Ich habe die Parole ausgegeben, und sie glauben es mit mir, daß Offenbach lebendig sei. Und sie gehen da weiter als ich. Denn sie erblicken schon darin, daß er sich bei ihren Inszenierungen im Grab umdreht, ein Lebenszeichen.

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