548. Vorlesung am 23.04.1930

Wien
23.04.1930

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 23. April, ½8 Uhr:

Die Seufzerbrücke

[Die Fackel 838-844, 09.1930, 125] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Theater der Dichtung

Die Seufzerbrücke
(Le Pont des Soupirs)

Operette in zwei Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach

Text nach Hector Crémieux und Ludovic Halévy von Carl Treumann, bearbeitet von Karl Kraus

Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler

Erstes Bild: Die Rückkehr des Gatten / Zweites Bild: Uhr und Barometer / Drittes Bild: Der Rat der Zehn / Viertes Bild: Der Karneval von Venedig

Uraufführung in Paris 23. März 1861 im Théâtre des Bouffes Parisiens. Erstaufführung in Wien 12. Mai 1862 im k. k. priv. Theater am Franz Josef-Quai (»unter der Direktion des Carl Treumann, zum Vorteile der Schauspielerin Anna Grobecker«)
[Erste Wiederholung im Carl Theater 31. August 1863.]

Personen

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Das Couplet des Cascadetto (»Meiner Seel’, es ist fatal …«), das Terzett vom Mitleid, der Chor der Sbirren und das Couplet des Malatrombá (»Les affaires sont les affaires …«) mit Zeitstrophen

Nach dem zweiten Bild eine größere, sonst kleine Pausen

[...]

Aus der Biographie von Louis Schneider (Paris, Perrin et Cie 1923):

Puis vint Le Pont des Soupirs , opérette en deux actes et quatre tableaux, de Crémieux et Halévy, qui fut jouée le 23 mars 1861. Le livret est d’une folie charmante; mais est-il possible de raconter l’aventure du doge Cornarino Cornarini, venant, tel Ulysse, sous les traits d’un mendiant, rechercher son épouse Catarina, dont la vertu chancelle à Venise en écoutant les sérénades et les propos galants du seigneur Fabiano Fabiani Malatromba? Et l’histoire se termine en plein carnaval — —

Mais il n’y a pas que de la folie dans la musique du Pont des Soupirs, il y a aussi de la poésie. Et peut-être, dans ces pages si délicates, si fluides, verrait-on déjà s’estomper l’atmosphère du tableau de Giulietta qui se passe dans la cité des lagunes au troisième acte des Contes d’Hoffmann. Dès l’ouverture, avant que le rideau soit levé, s’esquisse derrière le rideau le chœur devenu populaire:

Ah! que Venise est belle!
Le soir elle étincelle;
Le jour elle sourit
Et chante la nuit.

Et quand le rideau s’est levé, quand ce chœur a chanté la beauté de Venise, le doge entonne une ravissante barcarolle en duo accompagnée par la flûte et le hautbois:

Dans Venise la belle
Que cherchons-nous?

Et l’écuyer de Cornarino répond mélancoliquement:

Une épouse fidèle
A son époux.

Et aussitôt le doge de répliquer par des «la, laïtou» qui sont de l’effet le plus imprévu et le plus comique. Au deuxième tableau, l’air de Malatromba «Ah! qu’il est doux, mon beau rêve!» est un bijou mélodique; c’est aussi par la grâce de la ligne que se distingue le chœur des gondolières au deuxième acte: «Vole, vole, ma gondole». Enfin le dernier tableau, celui du carnaval, est d’un mouvement, d’une vie qui rapellent l’intensité de rhythme et de coloris dont se recommandent les grands finals des opérettes célèbres du maître.

Le Pont des Soupirs, par l’abondance de sa partie chorale, par la difficulté aussi de cette partie, n’est pas d’une exécution couramment réalisable dans un théâtre. Et c’est, à mon avis, ce qui expliquerait l’abandon dans lequel cette œuvre si bouillonnante, si papillonnante, a été laissée. A sa création, le Pont des Soupirs, qui eut un énorme succès de première, avait pour interprètes Désiré, Tacova, Bache, Potel, mes-demoiselles Pfotzer, Lise Tautin et Tostée. En 1868, le 8 mai, la pièce remaniée, agrandie, fut reprise aux Variétés. Certaines pages avaient disparu de la partition, entre autres un duo à vocalises étourdissantes, au dernier tableau; mais d’autres morceaux avaient été ajoutés, notamment dans le rôle de Malatromba qui cette fois fut chanté par Dupuis. Cornarino, créé par Désiré, était chanté par Thiron, qui débuta ainsi aux Variétés et devint plus tard sociétaire de la Comédie-Française. L’excentrique Tacova céda la place à Grenier dans le chef du Conseil des Dix. Seule Lise Tautin reprit son rôle de Catarina.

Man versuche, nach dieser Nacht in Venedig die von Johann Strauß zu hören! (Bei aller Anmut ihrer Musik und bei allem Abstand vom heutigen Greuel.) Die »Seufzerbrücke« — nach »Orpheus« und »Genoveva von Brabant« das dritte abendfüllende Werk — bedeutet textlich wie in ihrer unerschöpflichen, viel- geplünderten Herrlichkeit die Uroperette; es ist, als müßte aller holde Irrsinn der Gattung, der einzig dem Theater seinen Sinn gibt, darin sein Vorbild haben. Die Wiedergewinnung dieses Schatzes — lohnend schon durch das Lied »Meiner Seel’, es ist fatal …«, das Terzett »Ayez pitié« und den unvergleichlichen Chor »Wir die Sbirren von Venedig« — war von allen dankbaren Arbeiten an Offenbach die schwierigste. Es lagen zwei Fassungen im französischen Klavierauszug vor und ein mit Mühe beschaffter deutscher Text, der nur unvollständig der ersten entspricht. Die Bearbeitung folgte dieser ersten Fassung von 1861, mit Vereinfachung der schweren Koloratur-Partie, auf die Offenbach in der Fassung von 1868 verzichtet hat, welcher auch wesentliche andere Partien — wie die (jetzt neutextierte) parodistische Wehklage über den Tod des Dogen — fehlen. Etliche hinzugekommene Werte sind in die Bearbeitung übernommen worden, wie das Terzett, das Couplet »Les affaires sont les affaires et les plaisirs sont les plaisirs«, das Lied vom Geld, von Geier und Taube und das von den Sporen des Admirals, welches in der Verbindung eines süddeutsch-volksliedhaften Tons mit der Grotesksprache der neuen Übersetzung an den Typus des Wedekind-Bänkels erinnern wird. Da nur das Treumann’sche Textbuch vorlag, so hat die
musikalische Bereicherung dramaturgische Eingriffe notwendig gemacht, deren Ergebnis mit dem späteren französischen Text übereinstimmen dürfte; und wie stets war nebst der Säuberung oder Ersetzung der Verse die Restaurierung des alten Dialogs zu besorgen und zugleich dessen Erneuerung, wo sie das theatralische Wesen — echt wie nur je — zuläßt und verlangt. Auch mußte manches, worauf Treumann leider verzichtet hat, aus dem Gesangstext der alten Partitur übersetzt werden. Die Wiener Fassung (»musikalisch-parodistische Burleske« betitelt) entbehrte unter anderm der Koloratur-Partie, enthielt aber — im vierten Bild — vier (heute verschollene) Einlagen des Dirigenten Franz von Suppé, »nach venetianischen Original-Melodien«, darunter ein Lied des Cascadetto, der in Wien von Frau Grobecker, in Paris von einem Komiker dargestellt wurde. An diesen Stellen trat wieder die Partitur in ihr altes Recht ein, vornehmlich in den neuen Masken-Strophen. Die Textvorlage — ein Soufflierbuch, das die handschriftliche Signierung Treumanns trägt — ist im Archiv des Brünner Stadttheaters aufgefunden worden, dem ehedem das Archiv des Carl-Theaters (und damit auch des Treumann-Theaters) überlassen worden war. Die Verwahrlosung der deutschen Offenbach-Texte ist ein Schandmal der Wiener Theaterkultur, die durch Vernichtung des letzten Bewußtseins verflossener Fülle dem protzigen Mangel dieser Gegenwart zugetrieben hat. Leider werden aber auch die französischen Klavierauszüge nicht mehr aufgelegt. Von der Fassung 1868 war noch ein Exemplar zu erlangen; angeblich ist sie nunmehr vergriffen. Die Partitur aus dem Jahre 1861, die bestimmt nicht mehr im Musikalienhandel erhältlich ist, verdankt der Bearbeiter der Freundlichkeit eines französischen Sammlers, der viele dieser Schätze bewahrt und der noch manche der Pariser Uraufführungen Offenbachs erlebt hat. Mit dieser (musikalisch so zusammengefaßten) Operette von dem heimkehrenden Dogen, der, um sein Leben zu retten, sich für seinen Mörder ausgibt und nebst den Störungen seiner Ehe seinen Nachruf mitmachen muß und sonstige Pein bis zu Galgen und Rettung, wäre der Bühne ein ihr zuständiges Werk gewonnen, von dem sie, an die Lehar und Kalman verloren, keinen Gebrauch machen wird.

Das nächste Werk, das der Vortragende bringen dürfte, ist »Die Schwätzerin von Saragossa« (»Les Bavards«). Er sucht den Klavierauszug von »Le Roi Carotte«, die Wiener Texte von »Geneviève de Brabant«, »La Périchole« und »Madame Favart«.
Die Werke, die der Rehabilitierung so würdig wären und ihrer so dringend bedürften: »Orpheus« und »Die schöne Helena«, widersetzen sich ihr leider schon in der ursprünglichen Beschaffenheit der vielgeschändeten Texte. Zum 50. Todestag Offenbachs (Oktober 1930) soll ein Vortragszyklus der bis dahin vorhandenen Bearbeitungen veranstaltet werden.

Knaack als Baptist

[Abbildung]

Nach der Natur photogr. von Hermann Klee

Aus dem Knaack-Album, Verlag von L. T. Neumann, Kunsthandlung in Wien (1862)

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