558. Vorlesung am 11.06.1930

Wien
11.06.1930

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 11. Juni:

Madame l’Archiduc.

[Die Fackel 838-844, 09.1930, 128] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Zum ersten Male

Madame L'Archiduc

Operette in drei Akten. Musik von Jacques Offenbach

Text nach Albert Millaud von Karl Kraus

Begleitung: Georg Knepler

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Mit neuen Zeitstrophen

Das Textbuch ist im Verlag Richard Lányi erschienen

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Betreffend Shakespeare- und andere Vorlesungen

»Wer möchte wegbleiben, der die Wohltat des Zutritts genießen darf?« Mit dem Zuruf eines der drei Edelmänner im »Wintermärchen« an den Pöbel dieser Zeit und insbesondere dieser Stadt ist zugleich die Frage gestellt und der Weg gewiesen, wie künftig denjenigen, die hören können und wollen, das Erlebnis Shakespeares im Theater der Dichtung und damit auch aller anderen Vorträge bewahrt werden könnte. Denn man glaube doch ja nicht, daß der Vortragende gesonnen wäre, einem heruntergekommenen Fassungsvermögen und dem depravierten Geschmack eines Publikums, dem der Fußball in das Hirn getroffen hat, die stoffliche Auswahl in Kunstdingen zu überlassen und etwa dieses Wunder von einem »Wintermärchen« zu opfern, weil eine Glosse über den Concordiaball noch immer mehr interessiert. Eine Dichtung als Perdita auszusetzen und sich dafür vom Troglodyten auffressen zu lassen — das wird nicht geschehen, ohne daß anderes unterlassen wird! Nur die Fortschaffung nach Böhmen und in andere wirtliche Gegenden
wird vollzogen werden, wo eine größere Empfänglichkeit, mit allem Hang zu den »eigenen Schriften«, auf die Kunstwerte wartet, die heute nur vom Theater der Dichtung zu empfangen sind. Hier soll einmal gelten, daß, wer das Große nicht ehrt, das Kleinere nicht wert ist. Um der treuen Schar von Wiener Hörern, die in den immer größeren Pausen immer wieder ihr Begehren äußern und die sich nicht über Untreue, nur über den Zwang der Umstände einer geistig verschrumpfenden Landschaft beklagen sollen, die Vorlesungen zu erhalten, werden diese als solche, die aus eigenen Schriften und die Offenbachs, künftig von dem Zuspruch abhängig gemacht werden, den Shakespeare und Goethe finden. Der erste solcher Vorträge wird deshalb im Wege der Subskription veranstaltet werden. Ist deren Ergebnis ein solches, das die Stadt mehr als den zu beschämen hat, der für den höchsten Wert menschlichen Geistes einsteht, so wird, mit allem Bedauern für die wenigen, die den Abscheu vor zeitlichen und örtlichen Dingen teilen, den Schlußpunkt eine Vorlesung von Shakespeares »Timon« bilden, in der verkürzten Fassung, die mit dem Gastmahl endet.

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