589. Vorlesung am 18.03.1931

Breslau
18.03.1931

[Karl Kraus las im Kammermusiksaal des Konzerthauses] 8 Uhr:

Veranstaltung der Breslauer Volksbühne. 18. März:

König Lear.

[Die Fackel 852-856, 05.1931, 53] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

THEATER DER DICHTUNG

König Lear

Tragödie in fünf Aufzügen von Shakespeare

nach Wolf Graf Baudissin (Schlegel-Tieck’sche Ausgabe) und anderen Übersetzern vom Vortragenden eingerichtet

[...]

Nach dem 2. Akt Pause.

Notiz des Wiener Programms:

Zuschrift:

— — In dem Goethe’schen Aufsatz »Shakspeare und kein Ende« findet sich eine wunderbare Prophezeiung der Shakespeare-Vorlesungen. Es ist mir durch die Goethe’sche Darlegung die Wirkung eines von »der richtigen Stimme« gelesenen »Lear« oder »Wintermärchen« erst wahrhaft klar geworden. Ein Leser.

Die Stelle lautet:

— — Nennen wir nun Shakspeare einen der größten Dichter, so gestehen wir zugleich, daß nicht leicht jemand die Welt so gewahrte wie er, daß nicht leicht jemand, der sein inneres Anschauen aussprach, den Leser in höherm Grade mit in das Bewußtseyn der Welt versetzt. Sie wird für uns völlig durchsichtig: wir finden uns auf einmal als Vertraute der Tugend und des Lasters, der Größe, der Kleinheit, des Adels, der Verworfenheit, und dieses alles, ja noch mehr, durch die einfachsten Mittel. Fragen wir aber nach diesen Mitteln, so scheint es, als arbeite er für unsre Augen; aber wir sind getäuscht. Shakspeare’s Werke sind nicht für die Augen des Leibes. Ich will mich zu erklären suchen.

Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die leichteste Ueberlieferung möglich ist. Aber der innere Sinn ist noch klarer, und zu ihm gelangt die höchste und schnellste Ueberlieferung durchs Wort; denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht. Shakspeare nun spricht durchaus an unsern innern Sinn: durch diesen belebt sich sogleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakspeare’schen Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche That, als geistiges Wort. Er läßt geschehen, was sich leicht imaginiren läßt, ja, was besser imaginirt als gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen, manche Grausamkeiten erhalten ihren Werth durch die Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen Zwischenscenen sind bloß auf sie berechnet. Alle solche Dinge gehen beim Lesen leicht und gehörig an uns vorbei, da sie bei der Vorstellung lasten und störend, ja widerlich erscheinen.

Durchs lebendige Wort wirkt Shakspeare, und dieß läßt sich beim Vorlesen am besten überliefern: der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. Es giebt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschlossenen Augen, durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakspeare’sches Stück nicht declamiren, sondern recitiren zu lassen. Man folgt dem schlichten Faden, an dem er die Ereignisse abspinnt. Nach der Bezeichnung der Charaktere bilden wir uns zwar gewisse Gestalten, aber eigentlich sollen wir durch eine Folge von Worten und Reden erfahren was im Innern vorgeht, und hier scheinen alle Mitspielenden sich verabredet zu haben, uns über nichts im Dunkeln, im Zweifel zu lassen. Dazu conspiriren Helden und Kriegsknechte, Herren und Sclaven, Könige und Boten, ja die untergeordneten Figuren wirken hier oft thätiger, als die Hauptgestalten. Alles, was bei einer großen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in dem Herzen der Menschen verbirgt, wird ausgesprochen; was ein Gemüth ängstlich verschließt und versteckt, wird hier frei und flüssig an den Tag gefördert; wir erfahren die Wahrheit des Lebens, und wissen nicht wie.

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