610. Vorlesung am 26.01.1932

Wien
26.01.1932

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal], ¼8 Uhr, 26. Januar:

Zu Ehren Offenbachs (nach den Aufführungen der Berliner Volksbühne und der Wiener Volksoper).

Vorrede. — Die Großherzogin von Gerolstein.

Programmnotizen wie in Berlin.

[Die Fackel 868-872, 03.1932, 63] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

Vorrede (Manuskript)

Zu Ehren Offenbachs

(Nach den Aufführungen an der Berliner Volksbühne und der Wiener Volksoper)

Die Großherzogin von Gerolstein

Operettte in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach

Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp bearbeitet von Karl Kraus

[...]

Nach dem 1. und nach dem 2. Akt eine  Pause.

Mit Zeitstrophen des Generals Bumbum und des Prinzen Paul

Begleitung: Franz Mittler

Hans von Bülow (aus New York, April 1890): In einigen Theatern habe ich fest geschlafen. Halt: eine Ausnahme — Mustervorstellung, wie nur selten erlebt, gesehn und gehört von Offenbachs »Großherzogin«, die ich mit höchstem Plaisir geschlürft. Früher war ich nicht reif dafür, so wenig wie für Mozart. Allerdings, das himmlische Frauenzimmer, welches Lilian Russel heißt — kommt gleich nach Agnes Sorma.

[...]

Der Konkurrent

»… Ein Mitglied Ihrer geschätzten Redaktion hat gegen meine Bearbeitung der »Großherzogin von Gerolstein« den Vorwurf des Plagiats erhoben .... Gegründet ist die Beschuldigung auf die Tatsache, daß ich in Chor- und Ensemblesätzen einige Zeilen der Erstübersetzung unverändert gelassen habe .... Und selbst der stärkste Kritiker wird nicht leugnen können, daß völlig neue - nach seiner Meinung: verschlechterte — Texte entstanden sind (durch Neuformulierung, Neuübersetzung, Neuschaffung). … Ich würde gern bereit sein, dem Herrn ersten Übersetzer — von dem ich 15 Zeilen Chor und Duett, 3½ Zeilen Rezitativ übernommen habe — alle Ehre zu erweisen, wüßte ich nur seinen Namen ....«

»… Dem Bußprediger gefiel meine Bearbeitung nicht! Das war sein gutes Recht! Der Bußprediger störte die Vorstellung durch Zurufe auf die Bühne! Das war weniger fein, denn man spielte ja die Arbeit eines Konkurrenten! … Ich ließ fünfzehn Zeilen Chor und Duett, dreieinhalb Zeilen Rezitativ — die Halbzeilen zusammengerechnet — so, wie ich sie im Klavierauszug fand! Ich habe keine fremden Autoren bemüht. Fast alle Lieder schrieb ich neu — die andern übersetzte ich neu! … Daß ich der Handlung eine neue Wendung gab, werden mir Meister und Jünger zugestehen müssen! Daß ich neue Gesangstexte schrieb, werden sie nicht leugnen können! … (Für Literarhistoriker: Hopp ist der Autor der Wiener Bearbeitung, nicht der im Klavierauszug enthaltenen!) …« Walter Mehring.

Es wird dem Herrn Walter Mehring zugestanden, daß er der Handlung eine neue Wendung gegeben, und es wird nicht geleugnet, daß er neue Gesangstexte geschrieben hat. Dies geschieht mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns. Daß man einen Regenschirm, der stehen geblieben ist, verwendet, weil man nicht weiß, wer ihn stehen gelassen hat, und selbst dann nicht zurückgibt, wenn man es erfährt, kann leider nicht zugestanden werden. Neu übersetzt hat Herr Mehring auch nicht einen Vers des meisterlichen Textes von Meilhac und Halévy, den die Ignoranten der Theaterkritik für »blödsinnig« halten, weil sie nur die blödsinnige reichsdeutsche Übersetzung kennen. Diese hat — im Klavierauszug — Herrn Mehring vorgelegen, und wie gleichfalls zugestanden sei, kein Regie- oder Soufflierbuch der handwerklich sauberen Hopp’schen Fassung. Schon in der reichsdeutschen Übersetzung sind etwa 21 Zeilen, die angenehm auffallen, mit der Hopp’schen Fassung identisch. Es besteht die Vermutung, daß Herrn Mehring ein Teil der Rundfunkfassung in dem Leihmaterial vorgelegen hat, das, an die Verlagsfirma zurückgegeben, meine Revision des Hopp’schen Textes aufweist. Die 21 Zeilen hat Herr Mehring übernommen, mit charakteristischen Wiederherstellungen des Hopp’schen Wortlauts, der im reichsdeutschen Text verstümmelt ist. Neuformuliert, neugeschaffen hat er Verse wie die der auftretenden Großherzogin, indem er nach dem übernommenen
miserablen Anfang:

Ach! Wie liebe ich die Soldaten, liebe ich die Soldaten,
liebe ich die Soldaten!

fortsetzt:

Prall das sündige Fleisch gezügelt
Wirkt der Mensch wie neugebügelt!
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Folg’ ich Regungen abnorm
Sünd’gen oder vaterländ’schen?
Ist’s der Mensch in Uniform?
Ist’s die Uniform im Menschen?
Ist es die Marschmusik — der Takt?
Lieb’ sie in Wichs — und lieb’ sie nackt!

Chor

Sie liebt sie nackt!
Sie liebt sie nackt!
Sie liebt sie nackt!

Statt der »Augsburger Allgemeinen«, aus der der Prinz Paul sein berühmtes Couplet singt, heißt es:

Wir trafen Hoheit bei der Messe,
Zwar leidend, aber resigniert!
Und diese Schmach, »Werwolf« signiert,
Steht in der Gerolsteiner Presse!

Aus dem unsterblichen Säbel-Motiv (der Säbel steht bei Hopp für den reichsdeutschen Degen) hat Herr Mehring mit einem Reim auf »hinten, im großen Hauptquartier« das Folgende gemacht:

Nimm hin den Säbel — den Säbel, den Säbel
Nimm hin den Säbel, du stolzer General
Zieh hin und knebel — und knebel und knebel
und knebel und knebel und knebel des Erbfeindes Gier!

Durch diesen imperativischen Knebel, der nicht hineingehört, da sich bloß der »Säbel« fortsetzen darf (während sich der »General« reimen müßte, wie bei Hopp »trug« und »schlug«), ist das parodistische Pathos der berühmten Szene völlig erstickt. In das mozartische Ehrendamenquartett, dieses süße Idyll bräutlicher Erwartung, das in der Volksbühne ein musikalischer Ulk wird, hat Herr Mehring gedichtet:

Amelie (öffnet ihren Brief)

»Ich glaube, der Feldzug ist bald zu Ende!
Hier ist dicke Luft!
Ich dank Dir auch vielmals — heut für die Spende!
Fritz, der ist ein Schuft!
Ich lege zu Haus Dir in die Hände
Die Soldatenkluft!

Was Herr Mehring an neuberliner Lyrik und revolutionär-pazifistischer Unbegabung neugeschaffen und neuformuliert hat, läßt den Peter Scher, den anerkannten Schänder der Metella-Arie, als Aspiranten auf die Weimarer Fürstengruft erscheinen. Gemeinsam ist beiden, daß sie, ohne Benützung des Originals, zu wenig von dem ihnen vorliegenden deutschen Text genommen haben: jener von Treumann und dieser von einem ihm unbekannten, aber doch vorgedruckten Autor letzten Ranges. Scher hätte mehr genommen, wenn Mehring tatsächlich bloß 18½ Zeilen geschoren hätte. Ich konnte bei der Aufführung nur die 21 von Hopp agnoszieren. In Wahrheit hat er von dem Bote & Bock-Mist, den ich bei der letzten Vorlesung aus dem Saale weisen ließ, ganz oder teilweise, zumeist mit Reimbenützung — die Hopp’schen Verse und freilich auch Halbzeilen und Wiederholungen mitgezählt — 139 Stellen benützt. Wiewohl er der Handlung bedauerlicherweise eine neue Wendung gab — mit Volksaufstand und Gerolsteiner Sprudel —, hätte er es doch nicht nötig gehabt, sich auf eine so geringe Anleihe zu beschränken und keineswegs bleibt verständlich, warum er gerade die schlechtesten Verse des ihm unbekannten Autors verwendet hat, wenngleich sie dem Rhythmus noch immer besser als die neugeschaffenen angepaßt sind. Dem in den Klavierauszug eingedruckten französischen Text hat er nichts entnommen als das Wort »Chance«, durch das er »Glücksfall« ersetzt. Er reimt es auf das Wort »Rache«, das im eingedruckten deutschen Text vorkommt. Ähnlich wie er »gezittert« auf »ergattert« reimt. Das kann psychologische Bedeutung haben. Jedenfalls hat er nunmehr die Chance, meine Behauptung als die Rache eines Mannes zu erweisen, der es nicht verwinden kann, von Herrn Karl Heinz Martin bei dem »Auftrag, die Großherzogin von Gerolstein für die Volksbühne zu renovieren«, übergangen worden zu sein.

Der Konkurrent.

[...]