637. Vorlesung am 14.11.1932

Berlin
14.11.1932

[Karl Kraus las im Breitkopfsaal am] 14. November:

Offenbach: Die Reise in den Mond.

[Die Fackel 885-887, 12.1932, 15] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

Die Reise in den Mond
(Le voyage dans la lune)

Phantastisch-burleske Operette in drei Akten (zwölf Bildern) von Jacques Offenbach. Text von Vanloo, Leterrier und Mortier, nach der Übersetzung von J. Hopp bearbeitet von Karl Kraus

Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler

(Paris, Gaîté 26. Nov. 1875, Theater an der Wien 16. April 1876)

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Zeitstrophen zu dem Couplet der Charlatans im dritten Akt

Programmnotiz der Wiener Vorlesung:

Die Berliner Aufführung von »Hoffmanns Erzählungen«, das Werk des Offenbachschänders Reinhardt, wurde kürzlich dankenswerterweise vom Berliner Rundfunk, der sich schon vorher Verdienste um Offenbach erworben hatte, übertragen. Zweifellos zur kriminalistischen Aufnahme eines Tatbestands, der dem Täter in gesitteteren Zeiten die Stäupung unter dem Brandenburger Tor eingebracht hätte, heute aber Ehrendoktorate der Philosophie. Ein wahrhaft teuflischer Plan des Rundfunks, der ja das heutige Theater entlarvt und beschämt wo er nur kann, der Phantasie Hoffmanns würdig; denn was sollte von einer Inszenierung, die das Auge blendet, um das Ohr vom Musikverbrechen abzulenken, für den Nurhörer übrig bleiben als eben dieses und der Abscheu davor? Ein einziger in der kläglichen Gilde einer Radiokritik, in Prag, hatte den Mut, die Farbe, die er nicht sah, zu bekennen:

Zu gleicher Zeit konnte man aus Berlin (Großes Schauspielhaus) die Reinhardtfassung von »Hoffmanns Erzählungen« hören. Im Rundfunk, also losgelöst von allen optischen Wundern der Reinhardt-Inszenierung, kam die Vergewaltigung der genialen Musik Offenbachs ohrenfällig zu Bewußtsein.

Und gerade ein Prager Musiker — derselbe Herr Szell, der das unversehrte Original der »Madame l’Archiduc« unter seiner Würde fand — hat sich um Reinhardtlohn dazu hergegeben, die Schändung eines toten Genies, die zu vollziehen ein Musiker wie Herr Leo Blech auf Namen und Gewissen genommen hatte, gastweise zu dirigieren. Wozu denn aber würden sich — von Korngold junior, dem Mißbraucher und Ausnützer der »Schönen Helena«, nicht zu reden — wozu würden sich diese Dirigenten nicht gebrauchen lassen, wenn ein Auslagenzauberer, der noch nie einen Ton Offenbachs in sich aufgenommen hat und keinen wiedergeben könnte, mit Pinke winkt! Nun, er hätte in Offenbachs Schaffen eine legitime Gelegenheit entdecken können, seinen Hokuspokus zu üben, ohne auch nur einer Note Abbruch zu tun. Damit »Hoffmanns Erzählungen« in ein Ballett verwandelt würden, hat es einer musikalischen Prokrustesarbeit — mit Strecken und Hacken — bedurft. Die »Reise in den Mond« ist eine phantastisch-burleske Ausstattungsoper, eine Feerie, über und über von Bewegung, Tanz und allen Möglichkeiten der dekorativen Szene erfüllt, und die unversehrte Herrlichkeit ihrer Musik: welche Hilfe; ihr Text: welches Stichwort; und dieses ganze Abenteuer des köstlichen Prinzen Caprice (Halbbruders des Rafael aus der »Prinzessin von Trapezunt«): welch ein geschaffenes Szenarium für einen Zauberer! Ich werde ihm jetzt lange Zähne machen, mit denen er vergebens den Bissen festzuhalten suchen würde. Eine Handlung, die zunächst auf der Erde, aber nirgendwo und nirgendwann spielt. Festliches Treiben vor einem Palast; eine Sternwarte; eine Schmiede (mit Hochofen); eine zwanzig Meilen lange Kanone, ragend und tragend über Länder, erscheint im Prospekt, also den Dimensionen des Großen Schauspielhauses so ziemlich angepaßt; und überall Raum zur Ausbreitung der Masse, die es bringen muß. Dann erst der Mond! Mit allen Landschaften, die es dort gibt oder nicht gibt — welche Möglichkeit für eine Phantasie, die gewohnt ist, über die Grenzen der irdischen Pleite vorzudringen! Ein Mondhaus, vom Projektil der Riesenkanone zerschmettert, welches in ihm »wie in einem Eierbecher stecken bleibt«; seltsame Architektonik, bizarre Formen der Menschen und Dinge. Ein Glaspalast, in dem coram populo regiert wird; eine Perlengalerie; ein Park mit tanzenden Schatten, Chimären und Sternen. Ausgestreute Äpfel fangen zu keimen an, bilden im Nu Bäume, auf denen sie als Früchte erscheinen; ein rasender Tanz der Mädchen, die sie pflücken, setzt ein. Frauenmarkt mit Lizitation, daselbst Auftreten von Charlatanen (sehr aktuell!). Das »Land der Schmerbäuche« (wo einige bewährte Mitarbeiter: Kulturhistoriker und andere Berliner Komiker, unmaskiert mittun könnten). Mondlandschaft nach Flammarion in Eis und Reif, ungeheure Gletscher, gähnende Abgründe, Schneewehen, bleiche Sonne, Tanz der blauen Schwalben und der lebendigen Schneeflocken, mit einem Galop finale. Eisgrotte auf dem Gipfel eines hohen Berges, aus Stalaktiten und Eisblöcken gebildet; ungeheure Räder mit Triebwerken und Flaschenzügen. Krater eines Vulkans mit Lava, Schwefeldämpfe, Eruption, Aschenregen. Rettender Luftballon; die Riesenkanone erscheint wieder; Erde mit der jubelnden Menschheit, die die Heimkehrer begrüßt. Abwendung der Pleite, keine Unterschrift mehr nötig, drei Jahre ausverkauftes Großes Schauspielhaus. Und zu all dem Blendwerk, gegen das ein venezianischer Palazzo eine Hundshütte ist, ein Melodienschatz, der, unbeschädigt im Aufruhr der Elemente, zwischen den Sehenswürdigkeiten lagert, und in ihm die originale
Spiegelarie, nach Offenbachs Tod in »Hoffmanns Erzählungen« übernommen, nun schmerzlich süß an die große Schändung erinnernd.

Doch so leicht es der Spiegelfechter gehabt hätte, so schwer hat es das Theater der Dichtung, das ja ohne jeglichen Fundus spielt. Mußte jener, um an »Hoffmanns Erzählungen« seinen Mumpitz zu entfalten, Musik und Text vergewaltigen, so war der Regisseur der »Reise in den Mond« wieder genötigt, der Fülle von Erscheinung und Bewegung Einhalt zu gebieten und Abbruch zu tun, um sie auf eine Szene zu beschränken, auf der nur ein Tisch steht (der er aber freilich mit den ihm eigentümlichen darstellerischen Mitteln auch den visuellen Eindruck zur Not sichern kann). Die Bearbeitung gebot sich für den besonderen Zweck wie für den des Rundfunks. Zum Bühnengebrauch — welcher nur unter drakonischen Sicherungen gegen Dilettantismus und Frechheit und mit totalem Ausschluß der »Universal-Edition« zulässig wäre — bleibt allem szenischen Erfordernis auch innerhalb der Operettisierung Raum gewährt. Es war eine schwierige Aufgabe, den Reiz der Musik — mit vielfachen Anklängen an »Trapezunt«, »Blaubart«, »Schöne Helena«, »Madame l’Archiduc« und »Hoffmanns Erzählungen« — und das Burleske in Dialog und Situation, diesen ganzen holden Unsinn, blühend und unverwelklich, einer Bilderfolge, die durch Überzeitlichkeit und Außerweltlichkeit zur Operette prädestiniert erscheint, kurz die Werte, die hier hauptsächlich den optischen Wirkungen dienstbar gemacht waren, rein musikdramatisch herauszuarbeiten und die Opéra-féerie in eine Opera buffa zu verwandeln. Wäre es selbst unmöglich gewesen, so würde die verschollene musikalische Kostbarkeit als solche die Vorführung gebieten. Der Biograph Louis Schneider rühmt besonders die Mondromanze des Prinzen Caprice, den Chor der Artilleristen, das Madrigal »Eine Hand seh ich fein und weich«, das Couplet der Charlatans und das ravissant duo de la Pomme. Dazu wären noch die Entrees des Königs V’lan und des Prinzen Quipasseparlà, Caprices Auftreten im Mond wie alle Chöre der Ehrendamen hervorzuheben. Die überreiche Ballettmusik, von welcher manches als Untermalung und für die Entreacte verwendet werden konnte, hat Gelegenheit zur Neuschaffung von Texten gewährt, die, an den entsprechenden Punkten des Dialogs eingepflanzt, die dramatische Fortführung begünstigten. Die Einteilung in Bilder mußte nach der ganzen Anlage des wunderhaften Werkes aufrecht bleiben, doch dürfte dem Vortrag wie einer Darstellung die Zusammenziehung der vier Akte in drei förderlich sein. Da sie mit Ausnahme des ersten statt im Gesangsfinale im Tanz verlaufen und viele Bilder nicht musikdramatisch abgeschlossen sind, so mußte für den Zweck des Vortrags wie des Rundfunks die Wiederholung von Chören wie die Verwendung von Motiven zu Chören vorgesehen werden. Neu sind auch, gegenüber der alten Übersetzung, der Gesang der Ehrendamen, die eine Liebesszene zwischen Fantasia und Caprice belauscht haben, und der Ausbruch der tollgewordenen Prinzessin; durchaus neu das Quartett zum Transport in den Vulkan und die textliche Verwendung der in der Ouverture enthaltenen »Spiegelarie« zum Abschluß der Handlung. Die in der Hopp’schen Übersetzung vorliegenden Gesangstexte wurden wie immer redigiert und zum großen Teil durch neue ersetzt, der Dialog wie immer stilgemäß verdichtet oder geändert. (Fände sich ein Kunstfreund, der eine Doppelausgabe jener alten und dieser neuen Texte veranstaltete, eine Gegenüberstellung, die noch aufschlußreicher wäre als der Vergleich der neuen Übersetzungen mit den französischen Versen, so würde er sich ein großes Verdienst um die Erkenntnis in Dingen der deutschen Sprachkunst erwerben. Nur auf diese Art leider wäre es möglich, den Lesern, die solcher Lektüre wert sind, sie zugänglich zu machen. Der Großteil der tausende Fackel-Leser hat, wie die skandalösen Fälle »Timon«, »Zeitstrophen« und eben auch »Vert-Vert« dartun, keine Beziehung zu dem Wesentlichen jener »eigenen Schriften«, deren Vortrag solche Anhängerschaft dem Autor verleidet hat. Wenn sie einmal ihre Erwartung, ihn Schulter an Schulter mit Schiebern um die Freiheit, die da gemeint wird, kämpfen zu sehen, endgültig als getäuscht erkennen und bemerken werden, daß ihm für die Freiheit Offenbach wirklich wichtiger scheint als Ho — ruck nach links, dann wird wohl auch die geistigere Minderzahl ihrer Lektüre verlustig gehen müssen. Wie sollte man ihr aber vollends zu Werken verhelfen können, in denen nichts als Kunst enthalten ist und die jene darum nicht einmal von außen anschauen? Daß Pensionatsmädchen einen Papagei begraben, ist ja in der Tat kein Gegenstand, und eine Reise in den Mond entbehrt noch der Aktualität. Da sollten gar vergleichende Studien am Platze sein? Trost sei die Schmach, daß das Volk der Dichter und Bänker erst ein paar Jahre vor seiner Goethefeier die erste Auflage des »West-östlichen Divan« verbraucht hat. Und beglückend das Gefühl, wie sich im deutschen Sprachgebiet die Auffassungen vom Notwendigen und vom Überflüssigen so rein von einander abheben, und wie die Distanz kaum noch von der Satire auszumessen ist — höchstens von der satirischen Musik!)

Die Bearbeitung erfolgte nach dem in der Nationalbibliothek vorgefundenen (unvollständigen) Soufflierbuch des Theaters an der Wien und nach dem französischen Klavierauszug aus dem Verlag Choudens Père et Fils (mit dessen seltenem Exemplar der Bearbeiter dem Spender, Herrn Carl Lindau, zugleich die Anregung verdankt). Der »Mikroskop« dürfte eine der ersten größeren Rollen Girardis gewesen sein; die Darsteller der anderen Hauptrollen sind bis auf die Herren Szika und Friese (der noch lange tätig war) heute kaum mehr bekannt (obschon wahrscheinlich der letzte Chorist jener seligen Theaterzeit ein neuwienerisches Operettenensemble überragt hat; und merkwürdig, daß einem die Namen kleiner Leute: wie Thalboth, Liebold, Holzgärtner, die man noch auf den Zetteln der Achtzigerjahre gelesen hat, mehr Theaterluft heranbringen als alle Gegenwart prominenter Mitschänder der »Schönen Helena«). Die Ausstattung der Mond-Revue im Theater an der Wien, wie vorher die der Pariser Bühne, soll alle die Wunder geboten haben, von denen damals wenig Aufhebens gemacht wurde. Gleichwohl steht der Verlust dieses Werkes schicksalhaft am Ausgang der Karriere eines Zauberers. Hatte er auch niemals Chance, die vorliegende Bearbeitung zu erhalten, und wäre er nur auf seine Hausdilettanten angewiesen, so wäre es doch einmal eine Gelegenheit gewesen, Künste ohne Verletzung der Kunst spielen zu lassen und deren unverderbten Genuß einer Vielheit zu bieten, der das Theater der Dichtung unzugänglich bleibt.

Neue Offenbach-Operetten

Es gibt kaum einen stärkeren Beweis für die unheilbare Sterilität des zeitgenössischen Theaters als die Tatsache, daß Hunderte »prominenter« Dramaturgen, Regisseure, Dirigenten und ein paar Dutzend der gerissensten Direktoren der deutschen Bühne den größten Schatz, den das Theater des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat, seit Jahrzehnten verstauben lassen, ja daß sie von diesem Schatz einfach nichts wissen. Der faulste Zauberer in den Jahrmarktsbuden Thaliens aber, Herr Max Reinhardt, erweist seine Unfähigkeit nicht nur an der Verwüstung Offenbachs, sondern ist auch so wenig originell, seine Tapeziererkünste just an den beiden Werken zu erproben, die neben dem »Orpheus« allein im Repertoire der deutschen Bühnen übriggeblieben waren, an der »Schönen Helena« und an »Hoffmanns Erzählungen«. Erfüllte Herr Reinhardt auch nur die Mindestforderungen an Fleiß und Pflichteifer, an die bei Nachsicht aller Denkarbeit und schöpferischen Geistesleistung heutzutage die Verleihung des Doktor- oder Professortitels gebunden ist, er hätte wenigstens einen Griff in den verborgenen Schatz von rund 100 Offenbach-Operetten getan, als es ihn gelüstete, am leuchtendsten Beispiel wahren Theaterzaubers sich als Entzauberer zu betätigen und den Zeitgenossen zu beweisen, daß es vom Wunder zur Ware nur ein Schritt sei, den ein prominenter Konfektionär, der sich an Shakespeare ausgetobt hat, auch bei Offenbach nicht scheut. Aber es hat nicht einmal so weit gereicht. Und das ist, so notorisch es die Geistesarmut der ganzen Reinhardt-Kumpanei erweist, nicht nur aus diesem Grunde zu begrüßen; es bewahrt uns vor Ärger und Enttäuschungen und läßt uns die neuen Operetten Offenbachs im Theater der Dichtung mit reinstem Genuß erleben. Karl Kraus, seit Jahren besessen von Offenbach, verliebt in den nie vergessenen, aber erst spät gehobenen Schatz, hebt Stück um Stück die Herrlichkeiten eines versunkenen Theaters ans Licht, behutsam und ehrfürchtig allen Glanz und Edelrost des Alters wahrend, nur Staub und Spinnweb sorgsam entfernend, daß der matte Silberglanz der Texte, das Goldgefunkel der Musik und, alles überstrahlend, das Juwelenfeuer der Arien uns berücken, herrlich wie am ersten Tag.

Die Vorlesungen, die Karl Kraus am 12. und am 13. Mai in Prag gehalten hat, brachten die komische Oper »Vert-Vert«, eine musikalische Kostbarkeit, die als Premiere einer Gegenwartsbühne, also ohne die Weihe, mit der das Theater der Dichtung das Werk umgibt, das es zelebriert, ohne die Stütze des neugedichteten, nun erst im Deutschen wirklich gedichteten Textes, doch alle Konkurrenten der neuen Produktion schlagen müßte, und die phantastisch-burleske Operette »Die Reise in den Mond«. Die musikalische Einrichtung beider Werke hat Franz Mittler besorgt, der dem Gedanken der Offenbach-Renaissance als Bearbeiter der Musik wie als Begleiter des Vortragenden mit Liebe und Verständnis dient. »Vert-Vert« ist in dem Reichtum an Melodien, in seiner musikdramatischen Wirkung, die gleichermaßen auf Kraft und Steigerung wie auf zartester Abtönung und beglückender Lyrik ruht, wohl nur mit Mozart-Opern zu vergleichen; das Werk steht unstreitig auf einem Gipfel musikalischen Könnens, der jenseits der Grenzen liegt, die von der italienischen Oper jemals erreicht wurden, es wächst aus einem so ursprünglichen Gefühl, daß eben nur Mozart ein Maß wäre, bedürfte es, um das Schöne zu genießen, dessen kritischer Einordnung in eine Skala. Eine morgendliche Gartenszene mit dem Begräbnis eines Papageis und der Berufung seines Nachfolgers, wobei Totenklage und Freudenschrei sich ganz großartig verschlingen, eröffnet das Spiel, eine Sommernacht im selben Garten mit musikalischen Anklängen an »Hoffmanns Erzählungen« dramatisch belebt durch geistreiches Verwechslungsspiel und durch den Kontrast jugendlicher und altjüngferlicher Verliebtheit, steht am Ende. Zwischen beiden liegt eine Parodie auf die italienische Oper, die ihresgleichen selbst in anderen Offenbach-Satiren nicht haben dürfte. Die Oper, deren deutsches Textbuch wieder wie das von »Madame l’Archiduc« und »Perichole« eine Überfülle sprachlicher Probleme löst, von denen sich die gewerbsmäßigen Übersetzer nichts träumen lassen, stellt an Karl Kraus als Vortragenden die höchsten Anforderungen. Gilt es doch, einer Oper zur Bühnengestalt zu verhelfen, unserer Phantasie nicht nur den Umriß der Szene und durch ein Stichwort oder eine Geste das Bild einer Person zu vermitteln, sie muß auch die Vorstellung des großen Orchesters und seiner symphonischen Wirkungen, den Klang der Arie und die Polyphonie von Chören, Zwiegesängen und Terzetten erhalten. Daß es gelingt, daß wir, mit Aug’ und Ohr am Vortragenden hangend, die Illusion der Oper haben, drei Stunden in einer verzauberten Welt leben, uns an Klängen berauschen, die uns doch nur vorgespielt (wenn es nicht zu Mißverständnissen Anlaß gäbe, wäre das Wort »vorgetäuscht« vielleicht am Platze), unserer Phantasie suggeriert werden, das ist wohl der größte Erfolg, den Karl Kraus als Schauspieler des Solotheaters der Dichtung bisher errungen hat. Seine Art zu musizieren, die eben nicht Gesang und schon gar nicht melodramatisch ist, sondern die Einführung eines neuen Instruments, eines durchaus originellen, durch das Ohr auf die Phantasie wirkenden Reproduktionsmittels bedeutet, ließe sich an der Wiedergabe von »Vert-Vert« besonders gut studieren und sie müßte gerade hier, wo für den Phantasie-Armen die Lücke zwischen Vortrag und Gesang am breitesten klafft, auch den Zweifler von der Ebenbürtigkeit des originellen Instruments eines gespielten Gesanges überzeugen, so wie sie dem freudig Folgenden einen alle Bühnen- und Orchestermöglichkeiten übersteigenden Genuß gibt.

»Die Reise in den Mond«, von Karl Kraus aus einer Féerie nach der Hopp’schen Übersetzung in eine Operette umgedichtet, ist eine musikalisch entzückende und in buntester Phantastik der Szene, die einen Filmregisseur — gäbe es einen in der Legion der Auslagendekorateure — begeistern müßte, erblühende Dichtung, die den Mond als groteskes Spiegelbild der Erde zeichnet. Die Erdenkinder bringen den Mondbewohnern das auf dem Monde verlorengegangene Geheimnis der Liebe wieder, Prinz Caprice entführt die Mondprinzessin Fantasia, es gibt ein Heer phantastischer und komischer Figuren, die Musik erreicht oft die prickelnde und völlig sinnberaubende Rauschwirkung, die Offenbachs größtes Geheimnis war, und vermählt sich dann wieder organisch der Satire des Textbuches.

Zwei neue Offenbach-Operetten, zwei neue Wunder des Theaters, um so wunderbarer, da die Bühne sie uns vorenthält und das Theater der Dichtung des Einen, der selbst wie vom Monde in diese gottverlassene Welt versetzt, ihr unnatürlichster und doch ihr notwendiger Teil, sie uns als reine Gaben reicht, schlackenlos und unproblematisch wie die unberührte Natur, wie die Urgefühle selbst, ein paar Stunden des Glücks in glückloser Zeit!

Wie könnte ein Theater von solcher Kunst leben! Aber es denkt nicht daran, seinen Untergang aufzuhalten, anderswo so wenig wie hier in Prag, wo uns der Reinhardtjünger Eger soeben verkündet hat, daß er des Meisters »Helena«-Schändung für uns bereit hält.

'Sozialdemokrat' (Prag, 21. Mai) Emil Franzel.

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