651. Vorlesung am 16.01.1933

Wien
16.01.1933

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal am] 16. Januar:

Shakespeare-Zyklus in der Bearbeitung des Vortragenden

Troilus und Cressida

(Ouverture und Zwischenaktmusik aus Offenbachs »Die schöne Helena«; als Lied des Pandarus die Romanze der Helena)

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 1] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Troilus und Cressida

Tragikomödie in fünf Akten mit Prologus von Shakespeare

nach der Übersetzung von Wolf Graf Baudissin (Schlegel-Tieck) bearbeitet von Karl Kraus

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Ouverture und Zwischenaktmusik aus Offenbachs »Die schöne Helena«: Franz Mittler

(Als Lied des Pandarus die Romanze der Helena)

Da das Musikwerk — unsterblich, nachdem sie ausgelebt hat — sich nicht im Repertoire des Theaters der Dichtung befindet, so sei durch diese Verbindung der in Geist und Stoff verwandten Sphären die Sühne angedeutet, die eine kulturelle Untat erfordert hätte: die der Reinhardt und Korngold, das Unternehmen, das in weniger barbarisch orientierter Zeit (wäre da in einem Menschenhirn dergleichen gekeimt) die Stäupung unter dem Brandenburger Tor und kein Ehrendoktorat der Philosophie zur Folge gehabt hätte.

Je me suis laissé emmener par S. S. à une représentation de la Belle Hélène, chez Reinhardt. Grand succès; la salle est pleine, malgré le prix des places (14 marks). Même malaise qu’à la reprise de la Vie Parisienne, dernièrement, à Paris. La pièce, pompeusement montée, parait péniblement insignifiante; simple prétexte à des exhibitions de costumes et d’amples morceaux de chair. (Une Vénus, audacieusement dévêtue, extrêmement belle; mais on regrette alors de ne pas la voir plus longtemps). Tout cela serait mieux à sa place au Casino de Paris. La musique d’Offenbach souffre elle aussi de cette amplification; sa légèreté paraît creuse. Le public est ravi.

André Gide, Pages de Journal, NRF, Sept. 1932

So urteilt ein unter die Hottentotten Geratener. Natürlich übertreibt er die Möglichkeiten seiner eigenen Region, wenn er bei »Pariser Leben« in Paris même malaise empfunden haben will; da war, bei aller den Zeitumständen angemessenen Erniedrigung, die Musik wenigstens äußerlich unangetastet (und eine Venus, die nicht vorkommt, kam nicht vor). Ganz undenkbar, daß selbst im Casino de Paris jemals Nacktheit so geistlos, Geistlosigkeit so nackt sein könnte wie chez Reinhardt. Aber die Hand des Verhängnisses, die in der »Schönen Helena« eine gewisse Rolle spielt, hat gewaltet. Die der Preßmacht kann nicht verhindern, daß der größte Humbug eines Theaterjahrhunderts verkracht.

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