653. Vorlesung am 25.01.1933

Wien
25.01.1933

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal am] 25. Januar:

Shakespeare-Zyklus in der Bearbeitung des Vortragenden

Zum ersten Mal (mit Ausnahme der †) bezeichneten Szene)

Aus den Königsdramen:

Richard II., III. Akt 4, 5, IV. Akt aus 1, V. Akt 3, 4, aus 5.

Heinrich IV., 1. Teil, II. Akt 3 (mit dem Vorwort eines Zitats — Nachrufs für Percy — aus 2. Teil, II. Akt 3), III. Akt aus 3 und V. Akt aus 1 (verbunden); 2. Teil, IV. Akt aus 4, V. Akt 3, 5. — Heinrich V., V. Akt aus 2.

Heinrich VI., 3. Teil, II. Akt 5†), V. Akt 5, 6. — Richard III., I. Akt 2, V. Akt 2, 3.

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 1] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Aus den Königsdramen

Übersetzung von A. W. Schlegel, revidiert von Karl Kraus

— — Dann wollte ich, er wäre allein hier, so wäre er gewiß, ausgelöst zu werden, und manches armen Menschen Leben würde gerettet.

— — Aber wenn seine Sache nicht gut ist, so hat der König selbst eine schwere Rechenschaft abzulegen; wenn alle die Beine und Arme und Köpfe, die in einer Schlacht abgehauen sind, sich am jüngsten Tage zusammenfügen und alle dann schreien: Wir starben da und da; einige fluchend, einige um einen Feldscher schreiend, einige über ihre Frauen, die sie arm zurückgelassen, einige über ihre unbezahlten Schulden, einige über ihre unerzognen Kinder. Ich fürchte, es sterben nur wenige gut, die in einer Schlacht umkommen: denn wie können sie irgend was christlich anordnen, wenn sie bloß auf Blut gerichtet sind? Wenn nun diese Menschen nicht gut sterben, so wird es ein böser Handel für den König sein, der sie dahin geführt, da, ihm nicht zu gehorchen, gegen alle Ordnung der Unterwürfigkeit laufen würde.

Aus Heinrich V.

I

Richard II., III. Akt 4 [...]. 5 [...]

IV. Akt aus 1: [...].

V. Akt 3, 4, aus 5: [...].

II

Heinrich IV., 1. Teil, II. Akt 3: [...] (mit dem Vorwort eines Zitats — Nachrufs für Percy — aus 2. Teil, II. Akt 3)

III. Akt aus 3 und V. Akt aus 1: [...]

2. Teil, IV. Akt aus 4: [...]

V. Akt 3: [...]. 5 [...].

Heinrich V., V. Akt aus 2: [...].

III.

Heinrich VI., 3. Teil, II. Akt 5: [...].

V. Akt 5: [...].

6: [...].

Richard III., I. Akt 2: [...].

V. Akt 2 und 3: [...].

Änderung und Kürzung vorbehalten.

[...]

Hörer und Störer

Zum Gelingen eines Vortrags sind drei Tauglichkeiten erforderlich: die des Sprechers, des Hörers und des Saales. Die Tauglichkeit des Hörers wie die des Saales liegt außerhalb der Eigenart, die bei beiden Faktoren durchaus zugunsten der Möglichkeit des Hörens zurücktreten muß. Individualität ist — wenn er sie hat — das Vermögen des Sprechers, Verzicht auf sie Gewinn und Glück des Hörers, der in jenem Begriff des Plurals aufgeht, zu dem die Einzahl auf dem Podium die Vielen, so verschiedenen, zusammenzuschließen vermag: er entäußert sich des Vorrechtes seiner Besonderheiten, Vorstellungen, Meinungen, die dem Gebotenen zuwiderlaufen könnten. Gelingt solche Verbindung und Verwandlung dem Sprecher nicht, so hat er verspielt. Unmöglich, daß sie restlos an jedem Einzelfall gelingen könnte, der häufig genug vorsätzlich widerstrebt, zumal gegenüber einem Shakespeare-Vortragenden, von dem viele und auch nur vom Hörensagen wissen, daß die Journalisten nicht deutsch schreiben können. Dann bliebe immer noch das Vertrauen auf die Kraft, dem Einzelnen im Zuhörerraum genügend Lampenfieber (das der Sprecher nicht hat) beizubringen, um ihn zu verhindern, sich während der Darbietung seines Widerspruchs zu entladen. Versagt auch diese Fähigkeit, so bleibt die Hoffnung auf jenes Rechts- oder Taktgefühl, das willigere und schon dankbare, ruhige oder gebannte Hörer nicht durch eine Äußerung des Widerstandes stören wird. Wird selbst diese Hoffnung getäuscht, dann hilft nichts als die rechtzeitige Entfernung des Fremdkörpers, der im Strom der Wirkung nicht untergeht, des Hindernisses, des Geräusches. Kommt solches von einem Katarrh, soll es — so wünschenswert auch wäre, daß Rücksicht auf die andern das Opfer des Fernbleibens nahelegt — von so radikaler Kur nicht betroffen sein. Gemeint ist das Geräusch des Geistes, das etwa ein Wichtigmacher erzeugt, der dartun will, daß er in der ihn umgebenden Ergriffenheit bei einem »Wintermärchen« sich kaltes Blut und speziell klaren Kopf bewahrt hat; der, ohne auf die Bühne zu blicken, die Strapaze einer Textkontrolle auf sich nimmt und, ohne sich vom Vortrag stören zu lassen, der Nachbarin Erläuterungen gibt; nicht nur diese, sondern auch alle an seiner Gerechtsame uninteressierten Nachbarn stört und bei der ersten Betonung, die dem Privatsinn nicht genehm ist, seinen Tadel abgibt. Bedauerlicher Weise nicht so laut, daß es der Geprüfte hören konnte, der selbstverständlich die Prüfung abgebrochen und ohne die Belehrung, daß jedes Wort in einem Satz betont und manches »falsch« betont sein wolle oder müsse, die Persönlichkeit aufgefordert hätte, mit dem Vortragenden den Platz zu tauschen oder sich augenblicks geräuschlos zu entfernen. Daß solches die gestörten Hörer unterließen, ist bedauerlich. Vielleicht waren sie dem Nebenmenschen noch dankbar, weil seine Gespräche sie von einem andern Geräusch ablenkten: dem des Saales, der seine Individualität durch ein Klopfen im Heizkörper — auch das gibt es — angemeldet hatte. Umso dankbarer, als just er es gewesen sein soll, dessen Entschlossenheit die Abstellung dieses Übels bewirkt hat. (Er wußte sich Ruhe zu schaffen!) Wäre solch unleugbares Verdienst um die Hörer nicht vor-
gelegen — ein Eingreifen bei Störung durch die Technik wird künftig nicht mehr erforderlich sein —, so wäre ein Versäumnis zu beklagen, zu dessen Nachholung, freilich nur im dringendsten Fall, eine Richtschnur gegeben sei. Die gequälten Hörer fürchten offenbar, durch eine Remedur, die noch vernehmlicher sein müßte als die Störung, diese zu vergrößern und noch mehr »aus der Stimmung gebracht« zu werden; sie fürchten die dann notwendige Unterbrechung des Vortrags. Und doch wäre diese das geringere Übel als die fortgesetzte Pein der Beeinträchtigten und als das Opfer der Taktvollen. Wäre in einem Münchener »Hannele«-Vortrag die Entfernung des Photographen, der dem sanktionierten Recht der »Bildreportage« beherzt das Recht der Hörerschaft geopfert hat, mitten im ersten Schnappschuß erfolgt, so wäre eine Himmelfahrt nicht mit solcher Erdenpein behaftet gewesen. Freilich wäre auch der Satz ungesprochen geblieben, den ein deutscher Anwalt zur Abwehr der nachträglichen Abwehr gesprochen hat: »K. gehört nun einmal der Zeitgeschichte an, und wenn man schon in die Öffentlichkeit tritt, muß man sich eben auch gefallen lassen, daß sich die Öffentlichkeit in Wort und auch in Bild mit einem beschäftigt. Was heute K. einfällt, kann morgen auch ein anderer tun, und das bedeutet schließlich das Ende der Bildreportage!« Das Ende des Persönlichkeitsrechts, des Rechtes auf künstlerische Gestaltung und künstlerischen Genuß, des Rechtes auf Podiumnerven und einen ungestörten Vortrag kommt nicht in Betracht. Solche Rechte müssen in Deutschland (wo eine sozialdemokratische Gerichtssaalberichterstattung grinsend die Mauer macht) erst von Fall zu Fall erkämpft werden, und wer weiß, obs gelingt; in Österreich, wo es vorläufig noch ein Recht am Bilde gibt, erstrebt man die
»Rechtsangleichung« an den vorbildlichen Zustand, da ja doch die Bildreportage das letzte der Güter der Nation ist, das noch gerettet werden kann, und wenigstens in diesem Belange der Anschluß gelingen muß. »Was heute K. einfällt«, ist das Bedauern, daß sein zeitgeschichtlicher Tritt in die Öffentlichkeit nicht so gründlich gelungen ist, daß er nicht selbst wehrlos wäre gegen die fortschrittliche Frechheit, die ihn zwar totschweigen, aber sein Podium bedrängen möchte. Jedoch auch der Entschluß fällt ihm ein, dafür zu sorgen, daß die Öffentlichkeit, die hinterher tun mag was sie will, sich nicht, während er spricht, in Wort und Bild mit ihm beschäftigt. Das Bild wird nicht erzeugt werden, und das Wort im Vortragssaal hat er. Die Hörer, die das Recht haben, es ungestört zu empfangen, mögen getrost auch den Mut haben, es sich zu sichern. Der Vortragende verbürgt sich dafür, daß er — und wäre es die allerkostbarste, allerzarteste Stelle, der Hauch des Hannele, das Flüstern der Elpore, der Seufzer der Perichole —, durch den lauten Ruf »Ruhe!« unterrichtet, eben diese sei (durch eine Meinung oder eine Maschine) gestört, sie nicht nur her- stellen wird, sondern die Hörwilligen so wieder »in die Stimmung bringen«, in die Sphäre zurückversetzen wird, als ob nichts geschehen wäre. Die einzige unerwünschte Folge wäre — durch Veränderung des Schauplatzes für den einen und Wiederholung der Szene für alle — die Verlängerung des Abends um fünf Minuten. Die erwünschte Folge aber die Sicherheit, daß nie wieder — denn es spräche sich herum! — eine Individualität es wagte, das Recht der Hörer durch freie Meinungsäußerung zu verkürzen, deren Recht zwar staats- grundgesetzlich gewährleistet ist, aber selbstverständlich erst in der Pause, zu Hause, bei der Jause, durch die Presse, in sämtlichen Lagen und Gelegenheiten des weiteren Lebens, und überall dort, wo die Betätigung von den Mitmenschen zu ertragen ist. Der Hörer hat das Recht auf Hören und darauf, daß es vom Hörer nicht gestört werde; keinesfalls das Recht, es zu stören. Der Reim ist gut, jedoch unerwünscht. Nicht einmal dem Vortragenden des Theaters der Dichtung und des Shakespeare-Zyklus »fällt es heute ein«, wenn er — wozu ihn ja niemand zwingt — einer Shakespeare- Aufführung des heutigen Burgtheaters beiwohnte, während dieser Regie zu führen.

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