660. Vorlesung am 17.02.1933

Wien
17.02.1933

[Karl Kraus las im Offenbach-Saal am] 17. Februar:

Hamlet

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 2] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Hamlet,

Prinz von Dänemark

Trauerspiel in fünf Akten von Shakespeare

Nach der Übersetzung von A. W. von Schlegel bearbeitet von Karl Kraus

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Nach dem dritten Akt eine größere Pause

Es ist — außer dem uneinrichtbaren »Cymbeline« — das einzige Werk, das der (hier besonders) notwendigen Verkürzung auf zwei Drittel des Umfangs ein organisches Hindernis entgegensetzt, indem sie, aus dynamischer und nicht bloß mechanischer Rücksicht, aus dem Grunde der psychischen Gewichtsverteilung, gerade auch dort walten muß, wo, zu spät im Drama, neue Motive der Charakteristik wie der Handlung einsetzen: Hamlets Fähigkeit zu dem Entschluß, sich selbst aus der Schlinge zu retten und sich der Rosenkranz und Güldenstern zu entledigen; die Einfädelung des Duells (Osrick). Daneben gebietet die mit dem Duell-Motiv verknüpfte Entwicklung des Laertes Einhalt. Die Verkürzung aber — ohne die (und mit gröberer Methode) noch keine Bühne auskam — gewährt wohltätiger Weise die Zusammenlegung der Kirchhofszene und des Duells, und damit auch die Vermeidung der unheroischeren Möglichkeit, daß sich der blutige Schauplatz zu einem Zimmer verengt, wo Fortinbras die Herrschaft antritt. Zur Rapier-Intrige genügt die Andeutung; in einer Überwirklichkeit, deren Staatsmänner und Feldherrn auf der Straße durch Boten oder Hausdiener vom Kriegsausbruch unterrichtet werden (und die doch alle Wirklichkeiten der Welt bis zu deren Ende umfaßt), bedeutet die Fortsetzung des Grabkampfes zum Duell die geringste Unwahrscheinlichkeit. Ohne diese Abknappung des Ausgangs wäre überhaupt keine Wiedergabe des umfangreichen Werkes möglich; aber auch kein Lesergehirn wäre am psychischen Endpunkt der Hauptlinie zur phantasiemäßigen Verarbeitung, zur innern Dramatisierung der hinzutretenden Fakten noch fähig. Während sich in jedem andern Werk Shakespeares die unerläßliche Einbuße an Quantität durch den Abschnitt des Gerankes der Zwischenhandlungen (wie vor allem durch Eingriff in die dialogische Überfülle) ergibt, muß sie in diesem Hauptwerk auch die Haupthandlung treffen, wenngleich nur an einem Punkte, wo ihr die psychische Bereitschaft des Hörers, ganz zum Abschluß gerichtet und gedrängt, nicht mehr antworten würde. Diese fiele, mit allem was sie zuvor empfangen hat, der Matrosenszene zum Opfer, und insbesondere den Gesprächen mit Horatio und Osrick (mag ihnen der Leser nach Belieben noch Anhaltspunkte abgewinnen). Doch in diesem »Reich gestaltenmischender Möglichkeit«, wie nur in dem des Traumes, gewährt das charakterologische Übermaß auch den Verlust. Ob es Segen oder Fluch des Shakespeareschen Genies war, den Pelion auf den Ossatürmen zu müssen und zu können, dürfte wohl nicht zu beurteilen, geschweige denn zu entscheiden sein. In seinem gewaltigsten Werk hat er noch Ebenen daraufgestülpt.

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