672. Vorlesung am 19.11.1934

Wien
19.11.1934

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 19. November:

Vorspruch. — Macbeth 

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 3] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

[Abbildung von Charlotte Wolter]

(Vorspruch)

Macbeth

Tragödie in fünf Akten von Shakespeare

(Manuskript der szenischen und sprachlichen Neufassung auf Grund verschiedener Vorlagen von Karl Kraus)

[...]

Nach dem dritten Akt eine größere Pause

Musik: Franz Mittler

[...]

Ein Teil des Ertrags für die Winterhilfe

Stimmen der Presse

Die Stunde:

Diese Shakespeare-Feiern, wie sie Ernst Reinhold von Zeit zu Zeit veranstaltet, sind ungewöhnliche Leistungen eines Mannes, der Shakespeare mit der Leidenschaft eines Künstlers dient, Shakespeare zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat. Er ist Shakespeare-Forscher und Shakespeare-Interpret zugleich, kein Rezitator im alltäglichen Sinn, sondern ein Schauspieler-Fanatiker, der Shakespeare in allen seinen Gestalten darstellt, ein einziger als Schauspieler aller .... der schon als Gestalter Richard III. und des Othello ein Shakespeare-Theater einziger Art sehen ließ. Diesmal spielte er „Macbeth“, spielte dieses große, komplizierte, in seinen Formen und Figuren gewaltige Stück allein, spielte Macbeth und Lady Macbeth nebeneinander, ließ die Worte lebendig werden, das Drama bekam Schicksalskraft, man spürte tragische Gewalten, es war zugleich Darstellung und Interpretation. Sicherlich das Resultat einiger Jahre Arbeit, das Ernst Reinhold hier an einem Nachmittag seinem Publikum schenkte.

Neue Freie Presse:

Seinem Othello und Richard III. ließ Ernst Reinhold in einer Nachmittagsveranstaltung des Theaters in der Josefstadt den ganzen, von ihm allein .. dargestellten „Macbeth“ folgen. Er stand, als sich der Vorhang hob, an einem Tisch im Alltagsgewand, mit nervösen, vom Denken durchfurchten Zügen.... Er läßt alle Menschen des gewaltigen Werkes vor uns erstehen .... Ein Zucken dieser beseelten Hand, ein Blitzen dieses in das Innere gerichteten Blickes, ein Vibrieren dieser sonst so gelassenen Stimme, ein plötzliches Sichsteigern und wieder müdes Hinabsinken — und wir schauen in eine Hölle glühender Leidenschaft. Angst, Überraschung, Grauen, Entsetzen, teuflische Träume gigantischer Ichsucht und Macht, von Furien aufgejagten Ehrgeizes, der wie infernalische Wollust wirkt, wachsen vor uns in das Riesenhafte, geistern dämonisch an dem entrückten Zuhörer vorbei, fast möchte man sagen, an dem Betrachter.... Mächtige Eindrücke, denen man sich künstlerisch überwältigt und mit ethischer Anerkennung des Ernstes hingab, der diesen außerordentlichen Kenner und Könner in Zeiten wie diesen, die wahrlich dem Geiste abgeneigt sind, zu einer solchen selbstlosen Leistung des Geistes sich sammeln ließ. P. W.

Neues Wiener Tagblatt:

Nun haben wir auch Ernst Reinholds, des genialen Rezitators, gewaltigen „Macbeth“ gehört.... Ein Fanatiker des Dichterwortes, seines Sinnes wie seiner Musik, gab sich hinreißend kund, ein schauspielerischer Alleskönner von unwiderstehlicher Ausdrucksgewalt. In den vorüberhuschenden unheimlichen Hexenszenen erwies er sich auch mimisch als Hexenmeister. Er entrollte die Tragödie des maßlosen entfesselten Ehrgeizes mit durchhaltender, mäßig sich steigernder, letzter Meisterschaft. Gleich blitzenden Dolchen kreuzten sich die knappen, scharf zugeschliffenen Macbeth-Verse, die noch keinen kongenialen deutschen Übersetzer gefunden haben. Reinhold hat sich einen interessanten, leicht stilisierten, gedämpften Gesprächston zurechtgelegt, der rasch nach vorwärts drängt zu den tragischen Höhepunkten. Die Bankettszene war von gespenstiger Wirkung. Banquos Tod: mit den einfachsten Mitteln zu wundervoller Wirkung gebracht. Der trunkene Pförtner, der „alte Mann“ — feine kleine Genrebildchen. Lady Macbeth trat etwas hinter ihren Gatten zurück. Sie ist nach Reinholds Auffassung mehr intrigante, scharfe, altschottische Salondame als Tragödin großen Stils und dämonische Heroine. So sehr man auch Reinholds geistreiche Ausarbeitung der funkelnden Details bewundere, so verdient doch noch größere Anerkennung seine Gesamterfassung des Dichterwerkes als architektonisch gegliederte Einheit. Er verteilt schwere breite Schatten und grell einfallende Lichter mit tiefster Einsicht in das Wesentliche und Entscheidende. Nie und nirgends flunkert er mit eitlen Virtuositäten. Sein großer heiliger Ernst — „die Sache will’s, die Sache will’s!“ — teilt sich bald der Hörerschaft mit.... F.

Der Wiener Tag:

Zweimal hat man schon Ernst Reinhold gehört: das erste Mal, als er im Burgtheater Richard III., das andere Mal, als er in der Josefstadt den Othello darstellte. Wirklich darstellte, nicht sprach. Denn das war und ist das Verblüffende an Reinhold, daß er sich vor uns in die dargestellte Person verwandelt, daß er, obgleich er Körperbewegungen nur andeutet, uns glauben macht, die Gestalt lebe sichtbar vor uns, geh, magisch angezogen, in ihr Schicksal hinein. Die menschenhafte Polyphonie der Shakespeareschen Dramatik zusamt ihrem geistigen Inhalt lebendig zu machen — das ist die eigentliche Tat Reinholds .... Nun läßt Reinhold in der Josefstadt den Macbeth vor uns erstehen .... Reinholds Macbeth läßt das übrige Theater vergessen. Was sich vor uns begibt, ist ein Spuk, ein Traum, ein Märchen voll des tragischen Schauers der Unerbittlichkeit. So peitscht Reinhold die Szenen dahin aus Wahn der Hexen durch Wahn des Mordes in Wahn der Macht .... großartig, wie er Macbeth im Kampf, in der Vergeblichkeit, in der Einsamkeit immer stärker anwachsen läßt zur Tragik eines Mannes, der seinem Schicksal Trotz bietet. Reinholds Macbeth gibt die steile ragende Architektur des Dramas und belebt sie zugleich wie einen gotischen Bau durch eine Unzahl von Dämonen und Fratzen. Er löst die Frage des Star- und Ensembletheaters auf seine Weise. Er ist sein eigener Star und sein eigenes Ensemble. Und jeder seiner Schauspieler fügt sich ins Ganze des Theaters und der Dichtung.

Ein erstaunlicher Einzel- und Sonderfall. Dreimal englischer Shakespeare, alle Gestalten dargestellt von einem einzigen. Dreimal rares Außenseitertheater. Wann und wo findet Reinhold den Weg und den Durchbruch zum Theater der Lebendigen? o. m. f.

Österreichische Abendzeitung:

Ernst Reinhold — „Macbeth“-Rezitation in englischer Sprache! Ein Wagnis und eine Leistung! Wagnis, über 2000 Verse Shakespeares frei aus dem Gedächtnis vorzutragen und jede der Personen mit unerhörter tragischer Deutlichkeit vor den Augen des

Zuhörers erstehen zu lassen. Man erlebt Shakespeare durch Reinhold. Es entrollt sich das ganze Drama entfesselten Ehrgeizes, dargestellt von einem Shakespeare-Fanatiker. Reinholds Mimik ist ausdrucksvoll, sein schauspielerisches Können und seine Charakterisierungsgabe ungewöhnlich und in ihrer Art einmalig. Er setzt Lichter und Schatten sparsam auf, wo sie hingehören, und verschwendet keinerlei Nachdruck auf artistische Einzelheiten. Die Bankettszene ist von größter, erschütternd tragischer Wirkung, ebenso Banquos Tod.

Reinhold wird vielleicht stellenweise etwas zu leise, das Tempo ist manchmal etwas zu beschleunigt, die Aussprache des Englischen läßt hie und da einen fremden Akzent hören, aber es ist trotz allem ein einzigartiges, genußreiches Erlebnis. Dorit.

Ebenda:

Forster sinnt vor sich hin. Dann sagt er nachdenklich „— — Wo sind diese Zauberer, diese großen Magier? In der Theaterwelt sieht man sie immer seltener — sie sterben weg oder sie gehen übers große Wasser, oder sie gehen dorthin, wo die Zauberei noch mehr zu Hause ist als beim Theater: zum Film.... Da ist mit künstlichen Maßnahmen nichts auszurichten, das Publikum fühlt, wie es in dieser einstens so glühenden Welt kalt und arm geworden ist …“

„Und glauben Sie doch nicht, Herr Forster, daß es einen Weg gibt, das Theater wieder emporzuführen, das Publikum zurückzugewinnen …?“

„Nur dann, wenn sich Männer an die Spitze stellen, die ich mit dem etwas phantastischen Ausdruck Zauberer nannte …“

„Gibt es denn keine solchen mehr …?“

„Schon, doch viele wollen nicht das bereits aufgegebene Schiff übernehmen .... oder man läßt sie wohl auch nicht, weil man sie nicht erkennt …“

„Meinen Sie jemand bestimmten?“

„Ja und nein. Namen zu nennen ist nicht immer opportun. Einen kann ich Ihnen doch gern anführen, weil er gerade jetzt in Wien aktuell ist. Ich meine Ernst Reinhold, der in Wien Shakespeare-Vorlesungen hält. Für uns Eingeweihte ist es seit zwanzig Jahren kein Geheimnis mehr, wer der Mann ist. Sehen Sie, hier wäre wohl genug Persönlichkeit, Begeisterung und Können vorhanden, um das Wiener Theater von Grund aus zu reformieren. Vielleicht verstehen Sie mich jetzt, was ich unter dem Worte Zauberer verstehe …“

Reichspost:

Ernst Reinhold ist eine einmalige und völlig einsame Erscheinung in unserem Kunstleben. Er unternimmt und vollbringt, was niemand vor ihm vollbrachte: Er „spielt“ als einzelner Mensch auf einer mit Tüchern verspannten, also auf jeglichen Kulissenzauber verzichtenden Bühne die gewaltigsten Dramen Shakespeares. So sahen und hörten wir von ihm schon dargestellt: „König Lear“, „Richard III.“, „Othello“ und nun (im Josefstädter Theater) auch noch „Macbeth“. Er spielt ihn in englischer Sprache, er benötigt kein Buch und keinen Souffleur. So stellen sich diese Veranstaltungen zunächst als ungeheure, kaum faßliche und begreifliche Gedächtnisleistungen dar.

Darüber hinaus: Reinhold rezitiert nicht etwa, er spielt wahrhaftig. Sein „Macbeth“ vermittelte wiederum einen vollkommen gerundeten und restlos hochwertigen Bühneneindruck. Meisterhaft seine Sprache, seine Mimik, sein Auseinanderhalten der Rollen. Die Wirkung ist gigantisch und der ganze Aufwand, dessen das Theater bedarf, um sein Publikum in auch nur ähnlichem Maße zu fesseln und zu erschüttern, wirkt, gemessen an der herrlichen Einsamkeit dieses einzigen Menschen, schier lächerlich. Reinhold schöpft den gesamten Ideen- und Stimmungsgehalt der Dichtung bis auf den Grund aus. Es gehört zu den österreichischen Unbegreiflichkeiten, daß Reinhold nicht schon längst seinen Wirkungsraum auf unserem Theater gefunden hat, dem er Dienste leisten könnte, wie kaum irgend ein zweiter Regisseur und Berater der Schauspieler. Wer Zeuge des ungeheuren Triumphes war, den Reinhold auch mit seinem „Macbeth“ wieder feierte, kann die Kurzsichtigkeit unserer Theaterdirektoren nur auf das tiefste bedauern. B.

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