681. Vorlesung am 06.03.1935

Wien
06.03.1935

[Karl Kraus las im Kleinen Musikvereinssaal am] 6. März:

Zur Wiederherstellung des Originals

Der Talisman 

Musik von Adolf Müller sen. und Franz Mittler

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 4] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[…]

THEATER DER DICHTUNG

Zur Wiederherstellung des Originals

Der Talisman

Posse mit Gesang in drei Akten von JOHANN NESTROY

Musik von Adol Müller sen. (die Couplets von Franz Mittler)

[…]

Begleitung: Franz Mittler

Nach dem ersten Akt eine längere, nach dem zweiten eine kurze Pause.

[…]

Heimatschutz für österreichische Klassiker!

Reichspost, 2. März:

Volksoper: »Der Talisman.«

Das Kunststück, Nestroys lustig symbolischen Schwank geschmackvoll und lustig aufzuzäumen, hat Ernst Lönners Inszenierung (für die Volksoper von Karl Joachim bearbeitet) zustandegebracht: an sich eine Mixtur von Marionettenbühne und Spieluhr, von Revue, Dreigroschenoper, Kino, Opernparodie, Girls, Jazz und Bauerntheater, Posse, Bühnenexpressionismus, Operette, Philosophie und von — Nestroy, der hier voll und ganz zu Worte kommt, wenn auch oft nicht wörtlich nach dem Original; wenn auch oft »frei nach Nestroy«. Alles schließlich gewürzt durch die wandelnden Bilderbogen von Stephan Wesselys Hand. Dies wird unterstrichen, belebt, oft ins Ausgelassene gesteigert durch die (trotz gelegentlicher Jazzmanieren) echt wienerische Musik des jungen Komponisten J. C. Knaflitsch — — wirkte als lustig böhmelnder Friseur sehr lebendig.— — Allen hat die Regie eine gewisse Stilisierung in expressionistischer Richtung angedeihen lassen; mit bestem Erfolge! — — in ihrer Puppenrolle mit höchstem Lobe zu nennen. — — (im Vorspiele zum zweiten Akt) — — Alles Tänzerische .. feinsinnig und künstlerisch in den jeweiligen Rahmen eingebaut.

Ebenda, 3. März, S. 14:

»Habet acht auf das Zeitungswesen!«

— — Der Hirtenbrief fordert deshalb die Gläubigen auf, die schlechte Presse zu meiden und warnt: sie stürzt eure Kinder und Familien ins ewige und zeitliche Unglück; meidet die schlechten Zeitungen, denn sie sind Unheil, Verderben, Gift für euch selbst, auch wenn ihr erwachsen, gebildet seid und euch gegen die tägliche, ja stündliche Vergiftung des Geistes gewappnet haltet.

Wer von uns, der klug ist, würde von einem Pilzgericht essen, von dem er nicht weiß, ob es giftige oder bekömmliche Schwämme enthält? Wer von uns, der es mit sich selbst gut meint, würde Tag für Tag einen Menschen um sich dulden, von dem er nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist? Und eine tägliche Geistesnahrung sollen wir zu uns nehmen, von der wir nicht überzeugt sind, ob sie der Seele zuträglich oder abträglich ist, sie nährt oder mordet? — —

Eine Weltanschauung, die nicht eindeutig Farbe bekennt .. ist keine Weltanschauung, sondern Weltanschauungslosigkeit — —richtet im Herzen des Volkes, zumal der Jugend, schweren Schaden an, mehr vielleicht als ein ausgesprochen unchristliches Blatt — —

Die Finsternis wird nicht durch Wehklagen über die Finsternis vertrieben, sondern nur durch das Licht. Da vielfach durch Lässigkeit oder Gedankenlosigkeit das Gift .. in den Volkskörper gedrungen ist, muß es durch Gegengift unschädlich gemacht werden. »Nehmen wir«, so mahnte einmal der Presseapostel Opitz, »den Kampf fröhlich auf! — — Seufzen wir weniger und verstehen wir zu handeln! Rücken wir dem Feinde einmal mannhaft zu Leibe!«

Wo die beruflichen und finanziellen Voraussetzungen gegeben sind, unterstützen wir unsere Presse auch durch bezahlte Einschaltungen, durch Inserate. Sie wurden wiederholt das wirtschaftliche Rückgrat der Zeitung genannt und sind es. — — dringend gebeten, auch in diesem Punkte den Forderungen des Presseapostolates nach Kräften nachzukommen; — — mit Anzeigen wie Druckaufträgen mindestens ebenso häufig als die richtungslose Blätterwelt unsere treu-katholische, seit eh und je vaterländische Presse zu betrauen. Das ist kein unbilliges Verlangen, sondern eine Forderung der Gerechtigkeit und Klugheit. — —

Ebenda, 3. März, S. 21:

+ Zur Wiederherstellung des Originals liest Karl Kraus Mittwoch, den 6. d., im kleinen Musikvereinsaal Nestroys „Talisman“. Karten von 80 g bis S 4.— in der Buchhandlung Lanyi, Kärntnerstraße 44.

Der Staat, wo der »lustig böhmelnde Friseur« zuständig ist, der bei Nestroy nicht vorkommt, zeigt, politisch befangen, wenig Gefühl für die tragische Notwehr Deutscher gegen Deutsche und somit wenig Verständnis für die eigene Situation. Doch ein ehrliches Kulturstreben, welches Respekt vor den Werten und Werken der deutschen wie der eigenen Sprache betätigt, ließe Eingriffe wie den hier, an der Stätte betonter Heimatlichkeit, verübten unvorstellbar, unaufführbar, wohl aber strafbar erscheinen. Denn die Tschechoslowakei hat den Denkmalschutz auch auf Werke der Sprache ausgedehnt, zugunsten von Dichtern, denen die Nachwelt den Schutz des Urheberrechts nicht mehr gewährt; sie haben keinen Nestroy, aber sie würden ihn nicht antasten lassen. Ein Kulturrat wird seine Berechtigung erweisen, indem er solcher Möglichkeit einen Riegel vorschiebt und den gröbsten aller Unfuge verhindert: daß ein »freier« Klassiker darum, weil seine armen Erben keine Tantiemen mehr bekommen, auch vogelfrei ist.

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