687. Vorlesung am 14.05.1935

Wien
14.05.1935

[Karl Kraus las im Ehrbarsaal, IV. Mühlgasse 30 am] 14. Mai:

Der Widerspenstigen Zähmung 

Neufassung von Karl Kraus. (Mit Verwendung der Musik von Hermann Goetz)

[Die Fackel 909-911, 05.1935, 6] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

Darsteller: Karl Kraus

(Neufassung)

Der Widerspenstigen Zähmung

Lustspiel in fünf Aufzügen (mit einer Rahmenhandlung) von Shakespeare

Nach Wolf Graf v. Baudissin bearbeitet und ergänzt von Karl Kraus

[...]

Begleitung: Franz Mittler (mit Verwendung der Musik von Hermann Goetz)

Nach dem 3. Aufzug eine größere Pause

[...]

Zähmung von Widerspenstigen

Der Vortragende bittet insbesondere die Hörer der ersten Reihen, die er sehen und vielleicht auch hören kann, in seinem, mithin auch ihrem Interesse und dem ihrer Nachbarschaft:

Dialoge (deren Durchführung mehr Sache des Vortragenden ist) in die Pause zu verlegen, auch wenn sie mit dem jeweiligen Gegenstande zusammenhängen und nicht Privatangelegenheiten betreffen.

Gegenstände, die sich nicht in einem Shakespeare-Dialog, sondern in der Hand des Hörers befinden, wennmöglich nicht etwa in einer Szene wie der des Wiedersehens zwischen Lear und Kordelia fallen zu lassen.

Sonnenschirme, die die Mode den Damen auferlegt und die zwar kleidsam, aber weder abends in einem Saal unerläßlich sind noch zu einem zeitentrückten Drama (eher schon zu »eigenen Schriften«) passen, in der Garderobe abzugeben und sie dortselbst am Schluß, oder wenn der Abgang in der Pause erfolgt, gegen den Eindruck einzutauschen. Dies aus dem Grunde, weil die dahinter sitzenden Hörer auch gekommen sind, um den Vortragenden zu sehen, und von dem gewiß schöneren Anblick nun ja doch nichts haben als die Krempe. Was Herrenhüte betrifft, so werden die Eigentümer darauf hingewiesen, daß diese, wenn schon nicht in der Garderobe abgegeben, auf den Schoß gehören, aber nicht auf das Podium. Ein vereinzelter Hut, dort deponiert, lenkt die Aufmerksamkeit des Vortragenden wie auch der Hörer auf sich und vom Vortrag ab, da manche glauben könnten, er stelle ein Requisit der Handlung vor oder befinde sich durch Protektion oder Intimität an so sichtbarer Stelle. Einen Beweis besonderer Achtung vermag der Vortragende hierin — wie in der gleichartigen Ablegung einer Handtasche, ja eines Damenfußes — nicht zu erblicken, und es bleibt ihm, der seinerseits wieder dem Hut nicht Reverenz erweist, bloß übrig, in der Pause die Zurückziehung zu veranlassen; nächstens wird er sie selbst durchführen. Gewiß vermutet einer, der der Meinung ist, daß Lears Heide oder die Gegend bei Dover der richtige Platz für einen Hut sei (»… einen Pferdetrupp mit Filz so zu beschuhn«) — gewiß vermutet er nicht mit Unrecht, daß er der einzige sei, der es sich erlaubt, und kann sich wohl gar nicht vorstellen, daß andere seinem bahnbrechenden Beispiel folgen und eine Rampe aus Hüten herstellen würden. Aber ebenso unzweifelhaft steht für den Vortragenden fest, daß es ihm nicht gelungen ist, die rechte Illusion zu erzeugen, und daß der Ableger, wäre ihm das Podium erreichbar, auf dem der Lear des Namensvetters deliriert, sich hüten würde. Und doch enthält das Reglement des neuesten Burgtheaters im Wesentlichen nur die Anzeige, daß Personen, die Ruhestörungen verursachen sowie solche, die durch ihr sonstiges Verhalten oder ihren Zustand berechtigtes Ärgernis erregen entfernt werden können. (Nämlich Zuschauer.) Nun, eine so schwerwiegende Eröffnung hält der Vortragende in seinem Wirkungskreis vorderhand für überflüssig, und er unterscheidet sich von Röbbeling auch dadurch, daß er es verschmäht, ein Plakat mit einem Geniekopf — wie Meister Balsers als Beethoven — auszugeben nebst »Stimmen der Presse«, es wäre denn, daß er solche mangels anderer über den Vortragskünstler Reinhold zusammenstellte.

Der Vortragende, der des Lampenfiebers durchaus entbehrt, hat von jeher vorgezogen, es von seinen Hörern zu erwarten. Der einzelne soll aber während der drei Stunden an ein Ganzes sich anschließen, damit ihm dieser Zustand erspart sei. Daß er so frei von Lampenfieber wäre, in der ersten Reihe, im Angesichte des Vortragenden keinen Blick auf ihn zu tun, sondern ein Buch zu lesen, beweist eine verringerte Anziehungskraft, wiewohl der Vortragende eher geglaubt hätte, künstlerische Fortschritte gemacht zu haben. Allerdings spräche es wieder für einiges Interesse, wenn das gelesene Buch von Shakespeare ist und nicht von Zweig, ja sogar das Drama enthält, das eben vorgetragen wird. Es schiene sich dann um einen gewissenhaften Philologen oder Dramaturgen zu handeln, der nicht gekommen ist, auf sich Eindruck machen zu lassen, sondern zu vergleichen oder zu lernen. Hat er vielleicht gar die Ausgabe, die der Vortragende veranstaltet hat, in der Hand? Das wäre ehrenvoll, aber sinnlos, da der Vortrag mit dem Text ja übereinstimmt und das Hören die Mühe des Lesens erspart, mindestens während gesprochen wird. Nicht doch, das sichtbare Format zeigt eine der kläglichen »Revisionen« des Schlegel-Tieck-Werks, deren Benützung während des Vortrages, wenn sie schon nicht durch die sprachlichen Unterschiede verwirrt wird, doch wohl an den Verkürzungen innerhalb des Dialogs, an der Weglassung und Zusammenlegung von Szenen scheitern müßte. Mit nichten. Ohne nach rechts, links oder gar auf den Sprecher zu blicken, hält der Leser bis zum Schlusse durch. Er nun wie andere, die, dem Podium entrückt, dem aufschlußreichen Studium getrost obliegen mögen (solange es die Nachbarn nicht stört), werden darauf aufmerksam gemacht, daß der philologische oder dramaturgische Vergleich zwar einem schätzens- und wünschenswerten Interesse entspricht, aber passender und bequemer daheim zwischen einer alten Ausgabe und der gedruckten Neufassung durchzuführen wäre. Solcher Vergleich ist sogar wichtig. Die angestrengte Lektüre vor den Augen des Sprechers, der öfters nach dem versunkenen Leser blickt, wie Lear nach dem Mann im Block, widerstrebt durchaus dem Wesen der Theaterwirkung und ist geeignet, diese zu behindern. In der Oper mag die Handhabung der Partitur in den Lärm mitgehen und die Lektüre des Textes wegen obligater Unverständlichkeit der Sängersleute (die sich doch endlich ihr Kehlkopfleiden nehmen lassen und einen bürgerlichen Beruf ergreifen sollten) sogar geboten sein. Vor dem Drama, das auch im Vortragssaal Schauspiel ist, gibt es, wenigstens auf exponiertem Platz, kein Mitlesen und gewiß nicht in einem anders gearteten Text, dessen Durchforschung, mit der steten Ungewißheit, wie viele Seiten zu überblättern seien, den Darsteller irritiert. (Ein Ausnahmsfall wäre natürlich Schwerhörigkeit, die den gesprochenen Text zu Hilfe nehmen will; doch gerade dieser Fall hätte weit mehr Anhalt in der Gebärdensprache.) Es ist bedauerlich, daß das volle Licht des Podiums dem Darsteller die Vorgänge der ersten Reihen sichtbar macht; doch deren Bezieher sollten davon nur für das, was oben vorgeht, profitieren.

Ist es Sache der Nachbarn, sich durch solche wie sonstige Vereinzelung — optischer wie akustischer Art — gestört zu fühlen und damit dem Vortragenden beizustehen, so gilt dies vor allem für den Schutz jener eigenen Empfindungen, von deren gesteigertem Ausdruck sich jetzt manch einer abzusondern pflegt. Im Theater sind Applaus und Zischen die gemäßen Mittel, Beifall oder Mißfallen zu bekunden. Wer zu diesen Formen nicht neigt, entferne sich gänzlich. In einem Tumult von Beifall sich stumm gaffend, womöglich die Hand in der Hosentasche, vor dem einer Mehrheit Willkommnen aufzupflanzen, ist ein starkes Stück; ein stärkeres als der »Lear« der Widerstand gegen den von ihm gewiß nicht unterstützten Brauch, ihm bei seltener Gelegenheit stehend zu huldigen. Nicht als Demonstration gegen ihn selbst, sondern gegen das Gefühl der andern erscheint hier Absonderung unerfreulich. Nicht Gesinnung wird vom Andersgesinnten verlangt, sondern Takt; daß ein Flegel einen Sarg nicht grüßt, beleidigt nicht den Toten, aber die Trauernden. Als nach langer Trennung das Auditorium den Vortragenden stehend empfing, war es ihm recht: er konnte unmittelbar, nach der Bitte, daß die Ehrerbietung keinem noch Lebenden gelten möge, des edlen Banquo Geist beschwören, bevor er die Macbeth-Handlung ins zeitige Grauen übertrug. Hätte er in diesem Fall bemerkt, daß einer in der ersten Reihe sitzen blieb, mit einem Wink hätte er ihn aufgejagt. Solches war ihm dort unmöglich, wo es den Anschein geweckt hätte, als wollte er seine 400. Vorlesung mitfeiern. Das empfängliche Auditorium, das schon in der Betrachtung über »Hörer und Störer« (25. Januar 1933) gebeten wurde, sich nicht alles gefallen zu lassen und — innerhalb der selbstverständlichen Schranken — für die Beseitigung von Geräuschen menschlicher oder mechanischer Art zu sorgen, kann sich auch gegen optische Hindernisse schützen. Diese Vorträge sind, durch den Widerspruch zwischen steigendem Kunstwert und einer zeitgebotenen Abnahme der Hörerschaft, als Veranstaltung hinreichend fragwürdig geworden. (Umso erfreulicher durch die Befreiung von politischen Fremdkörpern, umso wichtiger als Behauptung geistigen Anspruchs gegen die Primitivierung durch Nationalismen und Sozialismen, wie gegen die notgedrungene Schlichtheit der Abwehr.) Sollen sie einem, dem sie für drei Stunden Leben gewährleisten, durch das Wissen verleidet sein, daß die des Anteils Würdigen sich ihn von andern verkürzen lassen? Innerhalb des Bereichs, worin Shakespeares und Offenbachs Gestalten erstehen, läßt sich gegen Fühllosigkeit ankämpfen. Selbst der Umstand, daß eine Saaldirektion in siebzig Jahren nicht erfahren hat, daß sich die willigen Zuschauer der letzten Reihen die Hälse ausrenken müssen, brauchte nicht erst nachträglich zur Kenntnis des Unsichtbaren zu gelangen, der noch im ersten Zwischenakt für Abhilfe gesorgt hätte. Wie sollte es nicht — ohne die Störung zu vermehren — möglich sein, mit Individualitäten fertig zu werden, die sich aufpflanzen wollen vor einem, der, in seinen Masken und Massen, Ensembles und Chören verschwindend, längst nicht mehr den Ehrgeiz hat, eine zu sein.

Übertriebene Ansprüche an den Äther

— — — einen Bruchteil jener Freude bereiten, die Sie mir so viele Jahre, Tag für Tag, geboten haben.

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P. S.

Als Postskriptum ein Glückwunsch zu der 400. Vorlesung in Wien (König Lear!!!), der beizuwohnen mir nicht gegeben ist. Zum Leidwesen derer, die mit Geist, Herz und — last not least — Ohr nah sein möchten und räumlich so entfernt sind, ist es nicht ermöglicht, daß jene wunderbare Erfindung des Radio uns Ihre unvergängliche Stimme von Zeit zu Zeit zu Gehör und Gedächtnis bringt. Finden Sie Offenbach und Shakespeare so sehr den Mißtönen dieses Zeitalters unverbindbar, daß Sie glauben, im Ätherchaos werde Ihre Stimme so ganz verloren sein? Dann vergegenwärtigen Sie sich nicht, daß es doch einige empfängliche Hörer in der weiten Welt gibt, denen dieser Schall Glückes Stunden bedeuten würde. — Oder sind es die Wärter des technischen Wunders, die etwa »Pandora« oder »Helena« für unzeitgemäß halten, und auch Nestroy und Raimund keinen Platz geben wollen — in Ihrer Darstellung? So warten wir in der Ferne vergebens.

Wir haben Ihre Zuschrift zum 28. April erhalten und bitten Sie, unsern und den herzlichsten Dank des Herrn K. empfangen zu wollen. Mit Ihrer so freundlichen Beschwerde haben Sie sich an die unrichtige Adresse gewandt. Wir glauben aber nicht, daß Sie und tausend andere Erfolg hätten, wenn Sie sich an die richtige, die eben von Natur die falsche ist, wenden wollten. Der Vorwurf, daß sich der Adressat Ihren Verlust »nicht vergegenwärtigt«, würde auch die Verwalter der in Betracht kommenden Radios nicht treffen, die gerade aus dem Grunde, weil sie Bescheid wissen, die von Ihnen vermißte Stimme aus dem »Ätherchaos« ausgeschaltet haben: damit die Welt weniger spüre, welchen Mißbrauch und dilettantischen Unfug sie mit dem ihnen ausgelieferten technischen Wunder täglich treiben. Es darf freilich nicht vergessen werden, daß sie in hohem Grade von den Verwaltern jenes älteren Wunders der Technik abhängig sind, das bloß die Genußfähigkeit des Lesers in Anspruch nimmt. Wir glauben, daß Anfragen und Beschwerden, die gewiß einlaufen, den richtigen Adressaten nicht einmal Verlegenheit, nur Portospesen und vielleicht nicht einmal diese mehr verursachen; sie hätten höchstens den Wert, jene bei der Zusammenstellung ihrer »Programme« ein wenig zu stören.

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P. S.

Oder in der eigenhändigen literarischen Produktion, die sich seit einiger Zeit, besinnlich und betulich, immer ungehemmter auf Erden und unter der Ägide der beliebtesten Rundfunkschäker ausbreitet. (Nicht ohne Merkmale einer Vorbereitung auf Blut und Boden.) Doch was bedeutet solch kleiner Austausch geistiger Güter zwischen Radio und Redaktion gegen den Wohlstand jener bis an die Wellen ragenden Persönlichkeit, der er durch ihr bloßes Dasein gebührt und vermöge der stummen Aufsicht über mehr Ding’ im Äther und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.

Entziehung einer Subvention

Vielfaches Schwachkopfzerbrechen — in der Richtung der »Widersprüche« — verursacht die unglaubliche, aber wahre Tatsache, daß die Darstellungen des »Theaters der Dichtung«, in Zeiten, wo es sich die eigene Publizität versagt, durch die Wiener Presse annonciert werden. Ein nicht großes, aber würdiges Thema, das sich (bei anderer Gelegenheit) leichter abhandeln lassen wird als etwas vom Annoncenpreis. Am billigsten — 1 Schilling pro Zeile — ist der ‚Tag‘. Dennoch wird seinem Text, der dem Vortragenden weit weniger sympathisch ist als der der Neuen Freien Presse, nichts mehr zufließen. Sympathien für den redaktionellen Teil der Tagespresse sind dem Inserenten, der zu ihm sein Scherflein beiträgt, eigentlich fast so wenig zuzutrauen, wie ihr für die künstlerische Leistung dessen, dem sie — und das ist wieder ihr Widerspruch — leider erst heute für Geld zugänglich ist. Im Fall des ‚Tag‘ jedoch soll faktisch die Entziehung der Annoncen eine besondere Antipathie bekunden, wie sie einem Prager Blatte gebührt, und vor sämtlichen einem, das in Wien erscheint und über seinen Ursprung vergebens, wenngleich nicht umsonst, durch den Umstand hinwegzutäuschen sucht, daß es nicht deutsch geschrieben ist. Antipathisch ist es durch die Verbindung einer Bereitschaft, sich ans Vaterland anzuschließen, mit der Aufgabe, Organ des Herrn Benesch zu sein; nicht minder wegen des Talents, ebendieses durch alle Vorschriftsmäßigkeit durchschimmern zu lassen und den Rechtskurs mit zwei linken Füßen mitzumachen. Für eine Annonce sich des ‚Tag‘ zu bedienen, kostet zwar nicht viel, doch immerhin Überwindung: indem man sich dem Verdacht aussetzt, gesinnungsmäßig mit einer Leserschaft verbunden zu sein, der die Gewohnheit, frei zu denken und zu mauern, nach wie vor als der wirksamste Schutz gegen das Verhängnis Hitler erscheint. Was auf diese Weise entsteht, ist die Mauer, gegen die einerseits mit dem Kopf gerannt und die anderseits den verbrecherischen Störern des größten Verteidigungskrieges aller Zeiten gemacht wird. In wie exemplarischer Weise solches der‚Tag‘ zwar nicht mit Worten, aber durch deren Auslassung unternimmt, zeigt eben jener Fall, der das »Theater der Dichtung« bewogen hat, ihm dauernd Zeilen zu streichen, wofür die Neue Freie Presse, mit der einen niemand in Verdacht bringen wird, entschädigt werden soll.

In der Reichspost (die auch schon beteilt wurde) hat ein Jesuitenpater, im Gleichnis der Emmausjünger, die Enttäuschung über den Kontrast zwischen Taten und Worten formuliert, und die Beschwerde, daß angesichts arger sozialer Mißstände »sich Sonntag für Sonntag und Woche für Woche ein Strom schöner Reden über alle Länder ergießt«, mit der Beruhigung abgewiesen, daß »Schwierigkeiten, mit denen die führenden Männer in anderen Staaten vergeblich ringen«, nicht »spielend und über Nacht gelöst werden«. Man könnte auch sagen, daß gegenüber einer beispiellosen Notwehr weder die Kritik der Emmausjünger noch deren Aufklärung am Platze sei und daß mancherlei Übel vor dem größten selbst dann hingenommen werden müßten, wenn manchmal die Notwehr der erschütternde Vorwand wäre, sie in persönliche Güter umzusetzen. Hat doch sogar die vorbildliche Dummheit der englischen Arbeiterpartei — heute nur noch von jener Demokratie übertroffen, von deren werktätiger Neigung der ‚Tag‘ sein Dasein fristet — erkannt, daß, »verglichen mit dem nationalsozialistischen Regime«, das österreichische »unendlich vorzuziehen« sei; und das könnte doch selbst der dem kulturellen Gehalt des neuen Lebens Abgeneigteste unmöglich bestreiten. Was aber die Reden anlangt, so mag auch hier die Quantität ein wirksamer Behelf sein, obschon es gewiß wünschenswerter erschiene, eine Beschränkung aus dem Gesichtspunkt der Qualität vorzunehmen und nur solchen das Wort zu erteilen, deren volksrednerisches Temperament sich überraschend bewährt hat (ich lass’ alle Namen, insbesondere den Starhembergs beiseite, damit Intellektuelle keinen roten Kopf bekommen); oder solchen, die einen beliebigen oder mißliebigen gedanklichen Inhalt phrasenlos und mit der Form, die der Sache entspricht, stilistisch zu bewältigen vermögen, ohne die Klischees der Zeitungssprache und der Halbliteratur verwenden zu müssen und ohne in mysteriöser Unentrinnbarkeit (der die Rhetoren einer Untergangszeit verfallen sind) wenn nicht gleich zu Beginn jeder Rede, so doch zwangsläufig letzten Endes »zwangsläufig« und »letzten Endes« zu sagen. Die deutschsprechenden Länder weisen nicht viele Schriftsteller auf, die in der Sprache ihres Landes schreiben können, auf daß Leser, die ihr unter dem Druck der Zeitung längst entsagt haben, sie wieder lernen. Zu den wenigen gehört ein Autor, dessen geschriebene Reden den einzigen Wohlklang des Wiener Radios bilden. Er hat kaum je einen Satz gesprochen, der nicht die logisch und mit rein sprachlichen Mitteln dargestellte Sache selbst gewesen wäre, was auch derjenige zugeben müßte, dem ihre gedankliche Substanz nicht imponiert oder weltanschaulich widerstrebt. Das ist völlig unerheblich, und wichtig ist nur, daß die Echtbürtigkeit und Erlebtheit der Anschauung durch den Ausdruck beglaubigt wird. Zwischen diesem und der Sache, um die es jeweils geht, ist kein Papier eingelegt, wird nicht der geringste Staub der Phrase bemerkbar. Auch der simpelste Gehalt kann eine überaus schwierige Verarbeitung erfordern, die zur einfachsten syntaktischen Form zu führen eben die Leistung ausmacht. Manche Sätze dieses bis vor kurzem unbekannten Redners und Autors — Walter Adam — sind in ihrer schmucklosen Fülle, die an die Speidel’sche Satzbildung erinnert, der sprachkritischen Beweisführung zugänglich, die sich einer vorbehält, der in der Sprachluderei der Gegenwart gern der Ausnahme begegnet, welcher sich ja nicht minder wirksame Aufklärung abgewinnen läßt; einer, der doch auch dem Stilisten jenes Manifestes Anerkennung gezollt hat, durch das die Menschheit dem vorletzten Ende zugeführt wurde.

Der Redner hat nun den folgenden inhaltlich und formal richtigen Satz gesprochen:

Ich glaube, daß wir auf solche Weise den Interessen des arbeitenden Volkes besser dienen als die Herren der Brünner Emigration mit ihrer Hetzliteratur und ihrer Greuelpropaganda. Zum 1. Mai 1935 haben sich diese Leute eine Parole aus der französischen Revolution ausgeborgt. Sie erinnern in ihrer Brünner »Arbeiterzeitung« an Danton und an sein Wort an die Massen: »Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit!« Aber sie verschweigen dem österreichischen Arbeiter, daß Danton nicht nur Kühnheit predigte, sondern auch bis zum Tode auf dem Schaffott bewährte, während Dr. Bauer, Dr. Deutsch und andere Herren von der jetzt in Brünn erscheinenden »Arbeiterzeitung« im Augenblicke der Gefahr über die Grenze gingen und die kämpfenden Arbeiter im Stiche ließen. Es ist bösartig gemeint, aber in der Wirkung nur lächerlich und grotesk, daß diese Revolutionäre des Ruhestandes, die im Februar 1934 die persönliche Sicherheit als den besseren Teil der Tapferkeit zu schätzen wußten, jetzt aus der Behaglichkeit eines Kaffeehauses oder einer Redaktionsstube in Brünn den österreichischen Arbeiter zu neuen sinnlosen Kämpfen aufhetzen wollen und daß ihnen zu diesem Zweck nichts Passenderes einfällt als eine Berufung auf Danton!

Und diesen Satz hat der ‚Tag‘ folgendermaßen wiedergegeben:

Nach einer Polemik gegen die Brünner Emigration fuhr Oberst Adam fort: — —

Nicht er! Dies statt eines Hohns der Sachlichkeit, der den Fortgefahrenen galt und die ganze Schande des Papierpacks darzustellen wußte, das noch immer Menschenblut fordert: Blut von Arbeitern, die das Papier erzeugen und bedrucken müssen. Damit ist bewiesen, daß der ‚Tag‘ dem Pack nahesteht. Die Subvention — 1 Schilling pro Zeile — sei ihm entzogen. Sie wird ihm unschwer dort ersetzt werden, wo man den Fort- gefahrenen die Entfaltung ihrer Kühnheit und den Mißbrauch der gegönnten leiblichen Sicherheit zum schnödesten Handwerk erlaubt.

[...]