689. Vorlesung am 11.11.1935

Wien
11.11.1935

[Karl Kraus las im Ehrbarsaal am] 11. November:

Letzte öffentliche Vorlesung 

Zum ersten Mal

Die Kreolin 

Operette in drei Akten von Jacques Offenbach.
Text von Albert Millaud, nach dem Original und der Übersetzung von J. Hopp bearbeitet von Karl Kraus.

Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler.

[Die Fackel 916, 11.1935, 1] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

Darsteller: Karl Kraus

Letzte öffentliche Vorlesung

Zum ersten Mal

Die Kreolin

Operette in drei Akten von Jacques Offenbach. Text von Albert Millaud, nach dem Original und der Übersetzung von J. Hopp bearbeitet von Karl Kraus.

Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler.

Erstaufführung im Théâtre des Bouffes-Parisiens am 3. November 1875 und im Theater an der Wien (»unter persönlicher Leitung des Kompositeurs«) am 8. Jänner 1876.

Personen:

[…]

Die Handlung spielt 1685; der erste Akt in La Rochelle, der zweite auf Schloß Lamirande, der dritte auf hoher See.

[...]

Vorwort

Die Bearbeitung und Darstellung dieses zeitfernen Kunstwerks wurde angeregt durch den Erfolg der Pariser Wiederaufnahme, der größer war als der in größerer Theaterzeit, mit Josephine Baker in der Rolle, für die sie keine Schminke braucht, aber auch ein furiöses Können mitbringt, wovon sich der Vortragende bruchstückweise durch das Radio überzeugen konnte, die Erfindung, die mithin nicht immer einen Fluch der Menschheit bedeutet. (Die »Ravag« hat die Sendung nicht vermittelt: zwischen dem täglichen Gejodel und Gedudel kommt sie sich schon klassisch vor, wenn sie »Ziehrereien von K. M. Ziehrer« und gar »ein Souper bei Suppé« bietet, Offenbach aber mit etwas aus seiner angeblichen Oper »Der Goldschmied von Toledo« huldigt, wiewohl sie darauf aufmerksam gemacht wurde, daß der Biograph jene als eine der »impostures qui ont paru sous le nom d’Offenbach« brandmarkt, und gleich daneben, als wollte sie das Stigma solchen Machertums auf ihn selbst übertragen, mit einem Potpourri unter dem eklen Titel »Aus Offenbachs Musterkoffer«.) In der Pariser Neufassung der »Kreolin« wurde der meisterliche Text durch den Zubau eines Vorspiels angetastet, der Baker zuliebe, deren Figur erst im zweiten Akt auftritt, womit sich die Judic und die Geistinger zufrieden gaben, weil gerade die Unsichtbarkeit starke theatralische Spannung hat. Die Musik, im Gegensatz zu den neudeutschen Praktiken — der vorhitlerischen Ära: jetzt gelangt dort Offenbach bloß durch dämonische Fügung zu Gehör — verhältnismäßig wenig beschädigt, hat sogar eine Bereicherung erfahren, da eben für jenes Vorspiel und auch sonst mit Geschick und Geschmack Offenbachsche Seltenheiten, keineswegs milieufremder Art, verwendet wurden. Zwei davon konnten der vorliegenden Bearbeitung angegliedert werden, die den alten Text konserviert, nicht ohne die Hopp’schen Verse — handwerklich gut wie immer, aber in der Deutlichkeit des Podiumvortrags unmöglich — fast durchweg zu erneuern. (Sie fußt auf dem Soufflierbuch des Theaters an der Wien, dessen liebenswerte Handschrift die Nationalbibliothek bewahrt, auf dem vergriffenen französischen Druck — bei Michel Lévy —, dessen letztes Exemplar beschafft wurde, und auf dem mit freundlicher Bemühung bei einem Pariser Antiquar aufgefundenen Klavierauszug, an dessen Stelle jetzt — bei Choudens — der der Neufassung getreten ist.) Der Text bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Schablone des französischen Theaters, also die unvergleichliche Gelegenheit schauspielerischen Ingeniums, vollstes Leben in die Szene einzulassen; die dialogische Erneuerung konnte kaum im Sinn einer Zeitanpassung erfolgen, und wenn man diesen Liebesgeschichten und Heiratssachen auf hoher See eine Spur von satirischer Tendenz abmerken wollte, so wäre es die dem Wesen der Operette anhaftende gegen die Würdenträgerei und im besondern gegen die Wichtigmacherei maritimen Getues, verkörpert in der Gestalt dieses tollen Kapitäns, der, auch im rührend Menschlichen, die Verwandtschaft mit dem Erzherzog in »Madame l’Archiduc« und somit die Autorschaft Millauds so wenig verleugnet, wie die anderen Typen mit ihrer Sprechart und der szenische Bau als solcher. Und wie unverkennbar tritt erst die Identität des Schöpfers einer Musik hervor, für deren zeitlose Satire sich der Vorstellung jedes Objekt darbietet, wo es nicht hinter jenen holden Lyrismen verschwindet, die gerade für die herbstliche Schöpfung Offenbachs so bezeichnend sind. Es versteht sich von selbst, daß da die zeitgenössische Wiener Kritik — und nach ihr die deutschen Lebenslaufburschen — den »Melodienquell, wenngleich keineswegs versiegt, doch nicht mehr so reich und ursprünglich wie einst strömen« sah, wie Hanslick bemerken mußte, der den »Blaubart« verrissen hatte — obwohl die Produktion, die schon im Zauberbann von »Hoffmanns Erzählungen« erfolgte, alles Vorhergehende und vielleicht Prunkvollere in jenen edlen Schatten stellt. Die Aufnahme der die Sphären »l’Archiduc« und »Perichole« verknüpfenden Kostbarkeit in das Theater der Dichtung geschieht — für alle, die an solchem Beispiel Vergangenheit als Entgangenheit fühlen — mit der bewußtesten Abzielung gegen alle Gegenwart der Welt und ihres Theaters, welche wir, solange wir sie noch mitmachen müssen und dürfen, Widerwart nennen wollen, mit dem unbestechlich radikalsten Abscheu vor dem Betrug eines »Zeittheaters«, das nie den Opfern der Zeit, stets nur deren bürgerlichen Parasiten zugesagt hat und heute selbst von den Moskau-Berliner Berufslügnern verleugnet wird, die sich nun wieder in den Geist zurückschwindeln möchten, zwar ohne das geringste Vermögen, doch nicht ohne den stupiden Anspruch, ihre a- wie betonalen Kunst- und Lebensformen beizubehalten. Mit ihrem deprimieren- den Stolz, 1935 zu leben, und ihrer trostlosen Hoffnung, Frechheit als »Jugend« durchzusetzen, muß man sie in die Zukunft zurückjagen, die ihnen gehört und in die sie gehören. Und wäre es das letzte Mal: sie sollen erfahren, daß das gültige Zeitgedicht Plunder zum Wunder gestellt hat und »modern« nur eine falsche Betonung war, ein atonaler Versuch gegenüber dem Vermögen, Leben aus den Grüften zu holen, und die lukrative Schamlosigkeit, es psychoanalytisch zu veraasen. Das Theater der Dichtung hat oder hatte keine andere Aufgabe als die der Probe, ob die Gegenwart vor dem, was es unleugbar nicht mehr gibt, bestehen kann. Da der Apologet es selbst nicht erlebt, bloß in seinen Resten geahnt hat, bleibt er dem hohlköpfigen Einwand von der »verklärenden Jugenderinnerung« entrückt; der Nachgestalter setzt sich getrost der Probe aus. Aus dieser Musik weht uns der Zauber der im Heroischen wie im Burlesken reichsten Theaterzeit an, der der Siebzigerjahre, die vom Kollektiv der Maschingeburten nur höhnisch berufen wird und in der doch der letzte Chorist des Theaters an der Wien — so behaupten wir, ohne es beweisen zu können — mehr Beziehung zum Metier, zum Element hatte als die ganze Prominentenzucht von heute, wie sie uns täglich von Säulen und aus Kolumnen belästigt und mit der Zunge an die Filmleinwand anstößt. Wie schön, an jenem ehrwürdigen Bühnentor, das die Schieberpranke des neuen Operettenwesens nicht mehr aufbringt, zu Proben Offenbachs vorbeizukommen! Diese Musik, erfüllt von allen Essenzen seiner Melopoesie, hat die zarte Kraft, den Nachgebornen, wofern nicht böser Wille ihm das Ohr verpicht, an die Seligkeit jenes Theaterlebens zu erinnern. Wenn nicht, wäre es ungleich wichtiger, als jemals »Zukunftsmusik« die der Vergangenheit einem Gehör beizubringen, worin sich das ganze heitere Grausen dieser Zeitläufte eingenistet hat. Wie muß sich das Glück der üppigsten Bühnenwelt verschwendet haben, wenn solches Ereignis einer Erstaufführung — unter persönlicher Leitung des größten Verschwenders — mit ein paar Zeilen abgetan wurde und wenn eine herrschsüchtige und launische Kritik, mit saurer Gnade für Offenbach, es wagen konnte, an einem Text wie diesem zu mäkeln, der selbst ohne Musik — mehr als die leicht überschwellenden von Meilhac und Halévy — die französische Szenenmeisterschaft beispielhaft bekundet. Daß aber Hanslick drei Hauptpartien wie die des Kapitäns (der originellste Scheintyrann der Operette, im Lustspiel ein echter Gabillon), des bezaubernden Réné (= Fortunato) und auch der Antoinette — die wichtigere Dora, die Kreolin, erscheint erst im zweiten Akt — als »die kleineren Rollen« bezeichnet und den Part des berühmten Szika überhaupt nicht erwähnt, zeigt an, welche Fülle von Unverantwortlichkeit im engsten Rahmen Platz hatte, da sie einer Presse zu Gebote stand, die noch zu dimensionieren und in Ausdehnung wie Ausdruck Maß zu halten wußte. Man vergleiche die Huldigungen vor dem heutigen Operettenpofel mit der schlichten Feststellung eines »durchschlagenden Erfolges«, den der zweite Akt »dem glänzenden Darstellungstalent des Fräuleins Geistinger und einem drastischen, vom Chor begleiteten Duett der Herren Martinelli und Girardi verdankte«. (Nach diesen gewiß hinreißenden Chargen eines »duo endiablé«, von dem die Biographie spricht, wird Schweighofers Seeheld kaum erwähnt, der, wenn er nicht gerade in Guadeloupe zu tun hat, nicht von der Szene kommt; die beiden Damen und er fanden sich »mit den kleineren Rollen mehr oder minder gut ab«: sie durften sich in den Brocken teilen.) Immerhin wird festgestellt, daß »einzelne Nummern zwei- bis dreimal wiederholt werden mußten«, eine Aussage, die dem Griesgram nicht leicht fallen mochte. Schwer hatten es aber auch die Schöpfer der heitersten aller Theaterwelten, und wenn man bedenkt, wie sich angesichts einer Produktion zwischen Nestroy und Offenbach und gegenüber ihren Darstellern eine Kritik in anständigem Deutsch miserabel aufgeführt hat, dann neigt man doch zu der Ansicht, daß die heutigen Analphabeten von Natur gutartiger sind, indem sie nicht nur die Autoren leben lassen, die sie zumeist selber sind, sondern auch die Schauspieler, welche pünktlich und in jeder Form ihr publizistisches Fressen vorgesetzt bekommen und, zwischen den Nachrichten vom Weltuntergang und den Annoncen von Hurenlokalen, für ein Ereignis, wie daß zwei Nullen ihre Rollen tauschen sollen, etliche Spalten reserviert finden und für den Kaiserschmarrn, den gestern eine neue Trillerin zu sich genommen hat, immerhin ein Interview. Aber man übersehe auch nicht die Pietät für das Gewesene, zu der sich die Sorte aufschwingen kann. Wie die »Ravag« von der großen Zeit des Carltheaters zu schwärmen wußte und Kalman meinte, so überwältigt es plötzlich die Schieberpresse: »Wieviel liebe Erinnerungen aus der Glanzzeit der Wiener Operette steigen mit dieser willkommenen Reprise auf!« Suppés »Fatinitza« oder »Donna Juanita«? Strauß’ »Lustiger Krieg« oder »Spitzentuch der Königin«? Millöckers »Bettelstudent« oder »Apajune der Wassermann«? Nein, etwas vor acht Jahren, von Eysler, wo — man geniert sich, es auszusprechen — jene »Portschunkula« vorkommt, die noch etwas unheimlich Gemütlicheres sein dürfte als die »Resitant« und offenbar in männergesanglichen oder schlaraffischen, jedenfalls ravagartigen Zirkeln beliebt ist, wo sich Humorformen wie »Friedrich der Heizbare« oder »blutwürstiger Dieterich« erhalten haben. Das alles gehört gleichwohl erst dem Jahrhundert des technischen Fortschritts an, und man er- kennt an solchen Beispielen, daß sich doch manches im Wiener Kulturleben seit der Zeit geändert hat, als Offenbach nach Wien kam, um die »Kreolin« zu dirigieren. Es wäre aber lohnend, die Wirkung dieser Musik auf die heutigen Meister des Genres zu beobachten: ob sie entschlossen wären, ihre bisherige Produktion mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückzuziehen oder sich für die weitere einzudecken. Der ganze fesche Jammer erklärt sich eher aus der Ehrlichkeit dieser Schaffenden, auf dem eigenen Einfall zu bestehen. Es war ja doch im Grunde nie begreiflich, daß Heubergers »Opernball« — den die Staatsoper auferstehen ließ — und Lehars »Lustige Witwe«, echte Originalwerke, hervorkommen konnten, nachdem »Pariser Leben« erschaffen war. (Mit der Unverwüstlichkeit der »Fledermaus«, die von einem Musiker ist und sich kräftig anlehnt, muß man sich abfinden.) Ganz bestimmt ist alles aus und alles eins, seitdem die Aufforderung hörbar wurde: »Kommen Sie ins Chambre separee, zu dem süßen Tetateh, ja beim Champagner, ja beim Souper, im Chambre separee!« und dann die Versicherung: »Ja dorten im Maxim, da bin ich sehr intim«. Das mußte zu Krieg, Pestilenz und Pleite führen, gereizte Heroen zogen das Gas aus der Scheide und in völliger Umnachtung tagte der Fünfer- bis Achtzehnerausschuß. Aber Offenbach triumphiert doch in dem dämonischen Witz, daß bei der letzten großen Parade vor Hitler, in dem Augenblick, da die Kavallerie an ihm vorbeiritt, sich das Orchester hingerissen fühlte, nicht etwa den Tannhäuser-Marsch, sondern den Höllen-Cancan, den der Unterwelt, zu spielen.

Dieses Vorwort und die Erklärung über die neue Art der Veranstaltungen sind in der kürzlich erschienenen Nr. 916 der ‚Fackel‘ enthalten.

Eine Stelle auf Seite 11 dieses Heftes (Nr. 916) erfordert eine Korrektur. Von besser Unterrichteten wird der Autor darauf aufmerksam gemacht, daß die Opernsängerin (und Klaviervirtuosin) Caroline Bettelheim (verehelichte v. Gomperz) mit der ursprünglich gleichnamigen und gleichzeitig der Wiener Hofoper angehörenden Karoline Tellheim zwar verwandt, aber nicht identisch war. Über jene, die namentlich als »Selika« in der »Afrikanerin« Triumphe feierte, zitiert Eisenbergs »Großes biographisches Lexikon der Deutschen Bühne« das Urteil:

»Sie besaß ein wunderbares Organ, das sich wie ein breiter Strom voll quellenden Wohllautes und blühender Frische ergoß. Mit dem machtvollen Alt verband noch die Stimme die helle Klarheit des Soprans und in ihrem Vortrage wirkte die Künstlerin ebenso hinreißend durch das Feuer der Leidenschaft, wie durch den bestrickenden Zauber süßer Innigkeit.«

Von der (angeblich um drei Jahre älteren) Nichte heißt es in dem reichhaltigen, wenngleich in Daten nicht sehr zuverlässigen Werk:

»Sie verließ dieses Kunstinstitut und trat, einem dringenden Wunsche Offenbachs, sich wieder der Operette zu widmen, Folge leistend, in den Verband des Carltheaters, wo sie mit offenen Armen empfangen wurde. Während ihres kurzen Wirkens daselbst verdient ganz besonders die Kreierung der Rolle des »Prinzen Rafael« in Offenbachs »Prinzessin von Trapezunt« .. Erwähnung, eine Partie, die nicht wenig zu dem Riesenerfolge der Operette beitrug, und welche für alle späteren Repräsentantinnen der Rolle mustergültig wurde, ohne jedoch auch nur von einer einzigen erreicht zu werden. Mehr als hundertmal trat sie in dieser Partie, stets mit ungeheurem Erfolg, am Carltheater auf .... Hierauf wurde sie noch für kurze Zeit Mitglied des Theaters an der Wien .. und rief daselbst von neuem in ihren Soubrettenpartien das Entzücken ihrer Verehrer hervor, namentlich als »Kapitän Fortunato« in der Operette »Madame Herzog«.

Das Lexikon hebt gerade die in der ‚Fackel‘ genannten Rollen hervor. Die Bezeichnung »a. G.« auf dem Theaterzettel der Wiener »Madame l’Archiduc«: »Madame Herzog« hatte die Vermutung des Gastspiels einer Opernkraft geweckt, als die dem Vortragenden nur die andere Namensträgerin gegenwärtig war.

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