693. Vorlesung am 03.01.1936

Wien
03.01.1936

[Karl Kraus las im Großen Ehrbarsaal am] 3. Januar 1936:

Nestroy: Eisenbahnheiraten oder Wien, Neustadt, Brünn.

[Die Fackel 917-922, 02.1936, 40] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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THEATER DER DICHTUNG

Darsteller: Karl Kraus

Zum zweiten Mal

Eisenbahnheiraten
oder
Wien, Neustadt, Brünn

Posse mit Gesang in drei Akten (nach dem Vaudeville »Paris, Orléans et Rouen« von Bayard und Varin) von Johann Nestroy,

nach der Schroll’schen Ausgabe*) eingerichtet von Karl Kraus, mit improvisierter Musik

Erstaufführung am 3. Januar 1844 im Theater an der Wien zum Vorteile Nestroys

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Der erste Akt spielt in Wien, der zweite in Neustadt, der dritte in Brünn.

Begleitung: Franz Mittler.

»Eisenbahnheiraten«

war eines der erfolgreichsten Werke Nestroys, für das die ‚Fackel‘ schon Ende 1901, zur Säkular-Feier und nach einem feuilletonistischen Übergriff Theodor Herzls, eingetreten ist. (Siehe III., Nr. 88: »Der Zerrissene, causa Herzl contra Nestroy«.)

Die Musik zu diesem leider verschollenen Kulturbild aus der Zeit der ersten Eisenbahnen wird improvisiert. Die Bearbeitung betrifft — außer unwesentlichen Strichen und Füllungen —wieder (wie bei »Liebesgeschichten und Heiratssachen«) die Aktschlüsse, deren erster durch eine Weglassung den stärkern Ton, deren zweiter und letzter den ihm nestroyisch gebührenden gesanglichen Ausklang erhalten. Hier wie häufig nach einem so einfallsreichen Dialog hat sich der Autor damit begnügt, daß ihm »im Orchester eine heitere Musik einfällt«. Solch ein Ersatz würde für das Podium des Vortrags nicht zureichen. (Dieweil, auch für diesen Zweck, bei einer ernsthaften Posse wie dem »Zerrissenen« die entsprechende Untermalung der gesanglichen Ergänzung vorzuziehen ist.) Darüber hinaus stellt sich jeder dramaturgische Eingriff in ein Werk Nestroys als frecher Übergriff dar. Erneuerung oder Aktualisierung — die kürzlich mit dem entzückenden »Talisman« bis zur Unkenntlichkeit vorgenommen wurde — ist einzig als Zutat zu den Couplets denkbar, deren Strophen, als Zeitstrophen von damals, oft stofflich wie gedanklich antiquiert und daher unverständlich sind, während ihr geistgeborner, nie veraltender Refrain jeder Gegenwart die Spitze bietet. Der geringste Versuch jedoch, der Zeit auch den Dialog anzupassen, würde ein Gesetz zum Schutze von Sprachdenkmälern erforderlich machen. Die tschechische Nation soll derartiges bereits haben, weil sie, obschon den Gefahren politischer und journalistischer Irreführung gleich jeder ausgesetzt, sich doch ihre Zuneigung zur Sprache bewahrt hat, wie selbst der Nestroysche »Zopak«, der nur die fremde mißhandelt, an mancher Stelle liebenswürdig dartut. Sie würde an Vrchlicky nicht rühren lassen. Anderswo ist es möglich, daß eine Ofenfirma beharrlich Goethes Nachtlied verhunzt und eine deutschgesinnte Presse daran das Geld verdient, das sie und jene als Strafe zu bezahlen hätten.

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