88. Vorlesung am 24.05.1916

Wien
24.05.1916

[Karl Kraus las am] 24. Mai im Kleinen Konzerthaussaal: zur Feier von Shakespeares 300. Todestag eine Vorlesung der »Lustigen Weiber von Windsor«, aus der Übersetzung von Wolf Heinrich Graf Baudissin (Schlegel-Tiecksche Ausgabe). — Die Kürzung betraf nur etliche Sätze in den meisten Szenen sowie die kleine zweite Szene des ersten und die zweite Szene des dritten Aktes. Nach dem zweiten und dem dritten: Vorhang und Pausen, in denen — wie auch vor dem ersten Aufgehen des Vorhangs — hinter der Szene die Musik von Nicolai gespielt wurde (Klavier: Herr Egon Kornauth). Der gesamte Ertrag ist den Gefangenen in Beresowka (Transbaikal) zugewendet worden. [Die Fackel, 426-430, 15.06.1916, 47] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Zum 300. Todestag Shakespeares

Die lustigen Weiber von Windsor

Lustspiel in fünf Aufzügen, übersetzt von Wolf Heinrich Graf Baudissin

vorglesen von Karl Kraus 

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Das Werk ist im Burgtheater zum ersten Mal gespielt worden »zum Vorteile des k. k. Hofschauspielers und Regisseurs Josef Koberwein bei seinem Abschied von der Bühne« am 16. Dezember 1846; wiederholt: am 17., 20., 27. Dezember, am 6. Jänner 1847, am 14. und 21. Jänner 1849. Von da an erscheint es nicht mehr im Repertoire, wiewohl es seit den Tagen, da Falstaff La Roche, Fluth Löwe, Page Anschütz, der Wirt Koberwein und Beckmann waren, das echteste Burgtheaterstück geblieben ist, so dort eingepflanzt, daß der Vorleser sich an die Aufführung mit Baumeister, Hartmann, Lewinsky und Gabillon, des weiteren mit Thimig, Arnsburg, Schöne und den Damen Gabillon, Mitterwurzer und Helene Hartmann erinnert, ohne sie nachweisen zu können, und die Lust nicht bereut, ein fernes Echo solcher Stimmen manchmal anklingen zu lassen. Warum diese Krönung des Falstaff-Humors, aus der königsdramatischen Episode zur Bühnenfülle eines tragischen Hanswurstes, warum diese vollkommene Heiterkeit der Fluth-Szenen mit ihrem gewendeten Othello-Pathos der letzten Schauspielergeneration entgehen mußte, ist unbegreiflich. Das Publikum, das wohl schon damals sein heutiges Burgtheater, welches Shakespeare-Aufführungen aus Takt unterläßt, verdient hat, scheint hier dem Besten, was seine Bühne geben konnte, sich ebenso gesperrt zu haben wie vor dem durchgefallenen Gogol’schen »Revisor«. Angesichts der redlichen Unzulänglichkeit des neuesten Burgtheaters und der unredlichen jenes Berliner Managers möchte es die Stimme des Vorlesers verlocken, ein dekorationsfreies Shakespeare-Theater ins Leben zu rufen, auf dem alle Organe, die uns einst so viel zu sagen hatten, wieder lebendig würden, wobei sie dem Verdachte varietéhaft äußerlicher Nachbildung einer Vielheit wohl zu entgehen wüßte. Sie würde es sich zutrauen, Vorstellungen von Werken wie Lear, Macbeth, Wintermärchen, Die Widerspenstige mit einer bis in die kleinsten Rollen bewahrten Treue so nachzugestalten, daß ein geschlossenes Auge und ein offenes Ohr der Zeugen jener lebendigen Herrlichkeit nicht mehr den Apparat vermißte, der heute für das offene Auge und das geschlossene Ohr seine toten Wunder verrichtet. Ein so rekonstruiertes älteres Burgtheater, freilich ohne Stammsitze für die Kritik, wäre vielleicht wichtiger als ein Phonograph, der die Stimmen der heutigen Schauspieler für die Nachwelt aufbewahrt, und geeignet, diese schnell noch etwas profitieren zu lassen, wenn’s ihnen gestattet wäre, zu hören statt zu sprechen. Der heutige Versuch, dem, weil denn die Zeit andere, schwerere Aufgaben vom Organ des Vorlesers verlangt, vermutlich doch keine weiteren folgen werden, will sich — ohne Konsequenz — mit der Markierung von Stimmen begnügen, die eben nie an der Darstellung der »Lustigen Weiber von Windsor« beteiligt waren. Er findet seine Rechtfertigung in der Gewißheit, daß Menschheitstypen von der Zeit her, wo »der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters« noch Besseres auszusagen hatte, an die Burgtheaterstimmen gebunden bleiben.

Der gesamte Reinertrag wird den Gefangenen in Beresowka (Transbaikal) gewidmet.

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