Karl Kraus ca. Arbeiter-Zeitung

Brünn
23.10.1934 – 05.03.1938

[196.] Im September 1934 veröffentlichte die Arbeiter-Zeitung in Brünn (siehe Akt 195) einen Bericht über die Festnahme des Sozialdemokraten Julius Braunthal, der in das Konzentrationslager Wöllersdorf gebracht worden war.

Der letzte Absatz lautete "Es gibt übrigens andere Schriftsteller, die über die Arbeitermorde vom 15. Juli 1927 nicht anders geurteilt haben als Braunthal. Zu ihnen gehört zum Beispiel der Herr Karl Kraus. Aber der hat sich jetzt in seiner 'Fackel' brav gleichgeschaltet und preist im Schweisse seines Angesichts die Kulturtaten des 'Österreichischen Menschen'. Das schützt allerdings vor Wöllersdorf." ( 196.2.)

Der Schriftsteller Hugo Sonnenschein brachte unter dem Pseudonym "Sonka" neben dem Artikel das Gedicht "Zeitgeister" – "Dem Karl Kraus und ähnlichen Helden der Gesinnung des Geistes zugedacht." ( 196.2.)

Samek und Kraus fragten bei Turnovsky an, ob er diesen Absatz und das Gedicht für klagbar halte, ob er selbst das Verfahren von Prag aus führen könne und wenn nicht, ob er einen geeigneten Kollegen in Brünn empfehlen könne. Turnovsky empfahl die Anwälte Robert Herrmann und Felix Gallia. Herrmann versicherte Samek sofort seiner "grössten Verehrung" (196.4.) für Kraus, doch eigentlich übernahm Kraus' Angelegenheiten in Folge Felix Gallia, den Samek und Kraus hoch schätzen lernten.

Gallia reichte also Klage gegen den verantwortlichen Redakteur Josef Schramek und in weiterer Folge auch gegen Hugo Sonnenschein, dessen Identität erst ermittelt werden musste, ein. Auf einen Vergleich mit entsprechender Satisfaktionserklärung gingen die Beklagten nicht ein. Sie wollten den Wahrheitsbeweis antreten. Wie die Brünner Anwälte vermuteten, sollte der Prozess "von den der Arbeiterzeitung nahestehenden Österr. Emigranten dazu benützt werden […], um ihre Anklagen gegen das jetzige Regime in Österreich bezw. das Regime Dollfuss vorzubringen und durch ein csl. Gericht über Gesinnung und Methoden der österr. Regierung ein Urteil fällen zu lassen." (196.19).

Schramek und Sonnenschein waren vorerst für das Gericht nicht wirklich greifbar und stellten ihren Antrag auf Wahrheitsbeweis sehr unpräzise – sie beriefen sich, was ihren Beweis betraf, auf das Material der Gegenpartei in Kraus Prozess gegen den Sozialdemokraten (siehe Akt 193). Samek witterte auch hier ein Verschleppungsmanöver und warnte Gallia davor, den Prager Prozess, in dem es auch um viel harmlosere Beleidigungen ginge, als präjudiziell anzusehen (196.30). Gallia war empört, als er von den Umständen im Prager Prozess erfuhr und erklärte, dass der Brünner Pressesenat hier viel vernünftiger agieren werde (196.54). Bei der Hauptverhandlung warfen Schramek und Sonnenschein in einem umfangreichen Beweisantrag Kraus vor, er passe seine politische Einstellung dem jeweiligen herrschenden System an und sie behaupteten zudem, er habe tschechoslowakische Staatsmänner angegriffen (196.61). Die Schriftsteller Paul Kornfeld und Johann Urzidil unterstützten mit ihren Zeugenaussagen die Behauptungen gegen Kraus. Samek und Kraus trafen sich Mitte März 1936 mit Felix Gallia in Wien. Sie entwarfen eine Erwiderung (196.84) auf diesen Schriftsatz und erweiterten die Klage im Bezug auf die Beleidigungen im Schriftsatz. Kraus sagte zudem als Zeuge aus (196.90), um ergänzende Angaben zu machen. Die Gegenseite versuchte weiter den Prozess zu sabotieren, indem sie eine Übersetzung des höchst komplexen und umfangreichen Krausschen Schriftsatzes in die tschechische Sprache forderte und zudem mit einer Erwiderung der Ehrenbeleidigungsklage drohte. Während noch weitere mögliche Zeugen bzw. das weitere Vorgehen erörtert wurde, starb Kraus.

Seine Brüder Rudolf, Alfred und Josef übernahmen auch diesen Prozess, wenn es hier auch Schwierigkeiten gab und Samek belegen musste, dass Kraus keine Frau, keine Kinder und keine Eltern hatte. Im Bezug auf die im Schriftsatz (196.61) enthaltenen Beleidigungen wurde Hugo Sonnenschein schließlich schuldig und Schramek (der in die Abfassung nicht involviert gewesen war) frei gesprochen. Im ursprünglichen Presseprozess kam es im Oktober 1937 zu einem Vergleich: In der nunmehr in Paris erscheinenden Arbeiter-Zeitung wurden in einer Erklärung Absatz und Gedicht widerrufen und Schramek und Sonka verpflichteten sich, 2.500 Kč Bußgeld zu bezahlen.