Rezension der Allgemeinen Zeitung München

Transkription: 

μ München, 4. Oct. Der Akademisch-dramatische Verein veranstaltet literarische Vortragsabende, an welchen moderne Dramen, die hier noch nicht aufgeführt wurden, zur Vorlesung gelangen. Gestern trug Hr. Karl Kraus, Schriftsteller aus Wien, Gerhart Hauptmanns „Weber“ vor — dieses bedeutendste Drama des jungen hochbegabten Autors, das von den beiden Gewalten, die nach Schiller die Welt zusammenhalten, dem Hunger und der Liebe, die erstere zum einzigen Motiv gewählt hat, und zum Helden gab er ihm einen ganzen Stand: die armen schlesischen Weber der vierziger Jahre. Noch gegenwärtig wird in Berlin um die Aufführung des Stückes gekämpft, denn wenn es auch alle Welt längst durch die Lectüre kennt, es ist nichts weniger als ein Lesedrama und schreit förmlich nach der Verkörperung auf der Bühne. Daß es aber auch vorgetragen von großer Wirkung ist, bewies der gestrige Abend. Hr. Kraus ist eine blutjunge bartlose Erscheinung, der man, wenn sie in einem Piccolo-Jaquet das Podium betritt, kaum viel zuzutrauen geneigt ist. Anfangs war er den Meisten auch schwer verständlich, nicht weil er das Original im schlesischen Dialekt las, sondern der ziemlich undeutlich hervorgesprudelten hochdeutschen Stellen wegen. Er wuchs aber mit seiner Aufgabe von Act zu Act, und man fühlte, er ließ sich durch sie begeistert mit fortreißen und beherrschte sie doch wieder zugleich mit ungewöhnlicher Gewandtheit. Hr. Kraus besitzt eine ganz bedeutende schauspielerische Begabung. Gesicht und Bewegungen werden im Laufe der Rede immer ausdrucksvoller, und diese selbst weiß die zahlreichen Personen des Stückes außerordentlich prägnant zu charakterisiren. Der Vortrag, der im Museum stattfand, war leider nur von einem sehr kleinen Publicum besucht, dieses zollte jedoch, von der Kraft der Dichtung hingerissen, dem jungen Recitator nach jeder Pause freundliche Anerkennung, wenn auch der von 8 bis 11 Uhr dauernde Vortrag des einen Hungerthemas zuletzt die erschöpften Zuhörer in einen Zustand versetzte, der dem der schlesischen Weber nicht so unähnlich gewesen sein mag.

Signatur: 
H.I.N.-241044
Datum: 
04.10.1893