Rezension der Arbeiter-Zeitung

Leseabend Karl Kraus. In seinem Leseabend, der am letzten Montag im Saale des Architektenvereines stattfand, wollte Karl Kraus nur seine Kunst des Vorlesens bewähren: er verzichtete auf den Reiz, der aus der Vorlesung eigener Werke erfließt, und wählte Bruchstücke aus Jean Paul, Shakespeare und Luther, bei denen die Kunst des Vortrages den entfremdeten Stoff überwinden mußte. Vielleicht war die Auswahl doch zu sehr von dem Wunsche bestimmt, die Vortragskunst isoliert erglänzen zu lassen; selbst Kraus, der es trifft, das feinste Geäder des Stoffes vor dem Hörer auszubreiten, gelang es schwer, die Frostigkeit der Jean Paulschen Allegorie vergessen zu machen. Den reinsten Eindruck machten die Szenen aus »Timon von Athen«, in denen die Gutmütigkeit des vertrauenden Verschwenders und seine wilde Enttäuschung ebenso plastisch hervortraten wie die feilen Ausreden der falschen Freunde. Überraschenderweise wurden die träumerisch-weichen Stellen von dem in seinen Lebensauffassungen so unerbittlichen Kritiker, der nicht selten ein Dichter ist, am schönsten gesprochen: zum Beispiel der Anruf des letzten Lesers und Menschen bei Jean Paul und die ergreifende Stelle in der Offenbarung Johannis: »Und der Name des Sternes heißt Wermut.« Ein ganzes Kunststück war die Wiedergabe einiger grotesker Stellen aus Shakespeares »Verlorner Liebesmüh’«; aber mit so viel Witz die alten Possenreißereien auch ausgestattet wurden, so hatte man doch das Gefühl, daß das einigermaßen zu viel Theater sei. — Natürlich mußte Kraus, der immer ein jauchzendes Publikum findet, zum Schluß einiges aus seiner ‚Fackel‘ zugeben, und das war, trotz der Kürze, der unterhaltendste und auch belehrendste Teil des Abends. Wie hat er die ganz kleine Skizze: »Schlichte Worte« (ein paar Bosheiten über die Schmock- und Schmuckreportage, die in Wien so herrlich grassiert) vorgelesen! Es war ein regelrechtes Drama. Aber es wäre grundfalsch, zu sagen, er habe das aus der Skizze »gemacht«, man sah vielmehr, mit welcher Unmittelbarkeit Kraus die Dinge empfindet, die ihm in Worte zusammenfließen und zur Kunst sich formen. Darin steckt eben die ungemeine Kraft und Bildhaftigkeit dieser Prosa, in der das Wort gleichsam das Kleid des Angeschauten ist. a.

[Arbeiter-Zeitung, 11.02.1912, zitiert in: Die Fackel 343-344, 29.02.1912, 13-14] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
11.02.1912