Rezension der Bohemia

Karl Kraus in der Lesehalle

Er ist in seine zweite Periode eingetreten und die ‚Fackel‘ in ihren zwölften Jahrgang. Er ist auch nicht mehr der Fackelkraus allein. Er gehört zu den Autoren des Langen-Syndikats, und er protegiert den ‚Sturm‘ .... Er ist Sprachbildner, und er bereist die Städte zweier Monarchien. So kam er, ein Privatgelehrter, auch in unser melancholisches Prag.

Zum Anfang las er etliche jener Aphorismen, wie er sie eine Zeit lang in Masse produziert hat. Eine Zahl der witzigsten Perfidien ist darunter und ein ganzes Schock von Erkenntnissen, die einem tiefen Atemzug gleichen. Aber noch überwiegen die Aphorismen aus Incontinentia, aus eiliger Notdurft des Geistes, die Sprüche, die ein lästiges »Niesen des Verstandes« sind. Beim ersten denkt man an Schopenhauer, beim zweiten an Lichtenberg. Beim dritten an Saphir. Beim vierten jedoch an den unentrinnbaren Oskar Blumenthal (der ja gleichfalls von Bonhommie frei ist und Ranküne genug auf Lager hat). Auch der aphoristische Witz des Herrn Karl Kraus ist oft ein Wortwitz und lebt von Verzerrungen und Verschiebungen. Es ist ein Witz, der vergebens predigt, daß Kopfjucken keine Gehirntätigkeit sei. Wortwitz darf nur der Skeptiker treiben, der die Welt belächelt, der Zyniker, der die Welt begrinst, nicht der soi-disant Fanatiker, der verlangt, daß diese Welt ihn ernst nimmt.

Erst in dem großen Manifest, das Herr Kraus zuletzt gab, wurde die Wirkung unmittelbar. Dort, wo er aufhört, aus der Antithese ein Gewerbe zu machen, und wo er zu einem Pathos übergeht, das visiönäre Glut hat. Er las nämlich seinen Artikel über die Ermordung der Elsie Siegel in Chinatown, einen Artikel, in dem er gegen die sexuelle Heuchelei und Qual aufschreit, und den er »Die chinesische Mauer« benennt. Hier stachelte er sich zur Ekstase, und hier schlug er mit dem Raffinement seines Vortrags durch.

Die Mittelstücke waren Humoresken, traumhafte Psychologien und Satiren — der »Biberpelz« (den man Herrn Kraus im Kaffeehause gestohlen hat), die »Welt der Plakate« und eine Glosse zur Justiz in Prostitutionssachen, das »Ehrenkreuz«. So oft es österreichisch wurde, brach das Publikum in schallendes Lachen aus, das Herr Kraus erst wehmütig, dann mit Hochgefühl entgegennahm. W.

[Bohemia, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 58] - zitiert nach Austrian Academy Corpus