Rezension der Deutschen Nachrichten

Vortrag Karl Kraus.

Karl Kraus, der Herausgeber der Wiener ‚Fackel‘, las als Gast des »Vereins für Kunst« im Salon Cassirer vor und wurde so persönlich auch dem Berliner Publikum bekannt. Fast wohlwollend freundlich wirkt das scharf geschnittene, intelligente Gesicht des geistreichen Satirikers, der auch als Vortragender ein feiner Pointeur ist, bei dessen Worten den Zuhörer das Gefühl beherrscht, daß ein ehrlicher Kämpfer, ein Mann mit seiner ganz von unerschütterlichem ethischen Ernst erfüllten Persönlichkeit hinter seinem Werke steht. Klar formuliert und scharf herausgearbeitet sind die Antithesen und Aperçus, die Kraus in seinem Buche »Sprüche und Widersprüche« zusammengestellt hat und wenn sein Leser trotz der aufrichtigen Freude an der schön gepflegten Form und der gedanklichen Tiefe des Gesagten nur selten mit dem wunderlichen Menschen, der sich den Kampf gegen ungezählte nichtige Unzulänglichkeiten zur Lebensaufgabe gemacht hat, eins ist, so bleibt doch von der ersten Begegnung die Erkenntnis zurück, daß Kraus im Gegensatz zu vielen anderen mit Recht bemerkt, daß es sehr leicht ist, im Wortspiel banale Weisheiten in ihr Gegenteil zu kehren, daß man aber einen Dulderweg hinter sich haben muß, um landläufige Sätze in ihr Gegenteil umkehren zu dürfen.

Die Sexualmoral, die Politik, die Rassenfrage, die zwischen weiß und gelb spielt, die Gerichtsbarkeit und natürlich der Journalismus sind die latenten Fragen, die ihn am meisten erregen und zu denen sein aufflammendes Temperament die schlagendsten Randglossen zu machen versteht. — Es ist gut, daß uns Kraus selbst das Geständnis macht, daß er sich als Sklave der Sprache fühlt und sich von ihren Formen neue Wahrheiten zutragen läßt. Zu offenkundig klafft hier die Lücke in seinem Denken, als daß sie der kritische Zuhörer übersehen könnte. Es ist vielleicht die feinste Pointe in Kraus’ Lebenswerk, daß er, den sein autokratischer Instinkt zum einsiedelnden Herrscher befähigen könnte, im Grunde nur ein Diener am Worte ist und daß er der Sprache mit fiebernden Händen nimmt, wenn er sie mit vollen Armen zu beschenken glaubt. So wird unter seinen Händen die Grammatik zur Logik und diese in der Sprache, nicht in seinem Hirn geborene Logik zur Unterlage einer Expedition, die er unternommen hat und während derer er als Seelenforscher zwar verblüffende, aber nur scheinbare Wahrheiten entdeckt.

[Deutsche Nachrichten, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 31-32] - zitiert nach Austrian Academy Corpus