Rezension der Deutschen Zeitung

Auch ein Vortragender. Man lobte ihn in allen Tonarten, darum ging ich hin. Die Gesellschaft war bunt-orientalisch-christlich-galizisch. Vereinzelte Geistigkeit darunter. Saal: Künstlerhaus, Bellevuestraße. Vortragender: Herr Karl Kraus aus Wien. Fackelschwenker seinerzeit, ehrlicher Hasser des Krieges. (Ehrlichkeit zugestanden!) Nun Begeiferer alles Gewesenen.

Vor dem Vortrag ein Geschwätz durch den Saal: »Phänomenal — einzig.« — Mehr Anerkennungen erstarben in einem langanhaltenden dreimaligen Ankündigungsklingeln. Der Saaldiener, fast schon vom Beifallsgeschrei der Krausgemeinde umtost, legt einen Stoß Bücher auf den Vortragstisch. Dann Pause — lange Pause — wieder Pause!

Der »Göttliche« erscheint. Rasendes Händeklatschen bebrillter Jünglinge, schwarzmähniger Literaturweibchen, blasser Dichtungsstudenten. Karl Kraus verbeugt sich in einem grauen Straßenanzug. Schwerfällig legt er sich in seinem Armstuhl zurecht. Hinter dicken Brillengläsern senken sich müde Augendeckel über
(angeblich) dunklen Augen. Die Rechte streckt sich vor und ein Pamphlet auf Reinhardt stockert zwischen schmalen Lippen.
Shakespeare, von Kraus gedanklich inszeniert, erwacht zu kümmerlichem Dasein. Raimunds Verschwender singt eine saft- und kraftlose Stimme zu einer Pianofortebegleitung. Girardi sang einst Valentins Hobellied. Der erschütterte Tausende von Hörern. Hier mühte sich charakterloser Bänkelsänger. (Mein Platz kostete elf Mark dreißig Pfennige, mithin elf Mark zuviel bezahlt.)

Dann Kraus als Dichter. Einige scharf umrissene Gedanken in poetischer Form. Nicht schlecht, sogar gut. [...] Dann die Schlußszene aus seinem letzten Drama. Karl Kraus hatte Erscheinungen: Graf Dohnas versenkte zwölfhundert Pferde — auf einem Brett im Ozean treibende Kinderleichen der durch deutsche Schuld (!) versenkten »Lusitania« — erstarrte Leichen in Schützengräben am Maschinengewehr — und Clou: Erschießung eines zwölfjährigen Jungen an der Seite seiner Mutter auf Befehl eines deutschen Obersten.

Atemlosigkeit! Tiefste Ergriffenheit des Café des Westens- Publikums. Unerhörter Applaus! Rasendes Geschrei nach Wiederholung! Platzende Handschuhe! Knallrote Beifallshände! Unerhört!! Unerhört!!! »Fabelhaft! Solchene Dichtung! Was ä Dichter!!«

Symbole deutscher Kultur!

[...]

Fürstin Mechthild, wirklich Fürstin-Dichterin von irgendwelchen Seiten geschätzt, lächelt verzückt … begeistert … wunschlos glücklich!! [...]

Die schüttere Dichterlocke Krausens fällt, klemmt sich zwischen Augenbein und Brillenglas! Napoleongeste! Sieg über das geistige (!) Berlin! Vom Künstlerhaus baut sich ein Triumphbogen himmelstrebend zum Café des Westens! [...]

Mir würgte etwas im Halse. Ich spuckte dreimal aus. Eins-zwei-dreimal!!! Pfui Deibel!!

[Deutsche Zeitung zitiert in: Die Fackel 546-550, 07.1920,  16-20] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
06.1920