Rezension der Grazer Tagespost

[...] Der durch jahrelanges Totgeschwiegenwerden so weithin bekanntgewordene, also eigentlich lebendiggeschwiegene Herausgeber der roten Fackelhefte hat, wie in anderen Städten, auch hier seine Vorlesung abgehalten. Wie in anderen Städten so auch hier vor gesteckt vollem Saal und unter nicht endenwollendem Beifall, wobei das »Nichtendenwollen« ausnahmsweise keine Zeitungsphrase ist, die ihren Kraus verdient: er las über zweieinhalb Stunden und es war den Leuten noch zu wenig, man wollte ihn einfach nicht mehr weg lassen [...]

Kraus ist ein ausgezeichneter Vorleser und unterscheidet sich dadurch von den üblichen Vorlesern eigener Werke, die man in der Regel nicht versteht. Ob er leise oder laut ist, man hört ihn bis zum Saalende, er hat in der Rede Tempo, er hat Ausdruck, bald rast er Sätze dahin, bald hackt er, um die Pointe geschickt vorzubereiten, er wechselt mit der Tenor- und Baritonlage, er stichelt mit der Stimme, dann erhebt er sie wieder zur zornigen Anklage. Völlig dialektfrei, würde er kaum für einen Wiener gehalten werden; nur die Diphthonge ei und au verraten ihn, sie klingen bei ihm so wie bei Mahler. Aber die Hauptsache; seine hellen hohen Kopftöne machen den Eindruck — von Brusttönen der Überzeugung. Er verzeihe diesen saphirischen Scherz umsomehr, als Kraus, in der Fackel wenigstens, selbst das Gegenteil von Saphir ist; kein Wortwitzling, sondern ein blitzscharfer Witzling der Sachen, Aufspürer verblüffender Zusammenhänge. Auffallend ist auch, daß sich die Glossen aus der Fackel so gut vorlesen lassen: ein Beweis für ihr lebendiges, empfundenes, nicht papierenes Deutsch [...].

[Grazer Tagespost, 20.02.1912, zitiert in: Die Fackel 345-346, 31.3.1912, 17] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743, H.I.N.-202689
Datum: 
20.02.1912