Rezension der Innsbrucker Nachrichten

Karl Kraus als Vorleser, seine eindringlich zupackende, kristallklar Glied an Glied reihende Sprachtechnik, seine Dynamik und Melodik wären schon ein Kapitel für sich. Jedes Für oder Wider über Karl Kraus müßte in einer Weise vorgebracht werden, die dem Niveau seiner geistigen Schärfe und der Schlagkraft seines Temperamentes entspräche, wenn der Beurteilende nicht selbst Gefahr laufen soll, seine eigene Inferiorität und Geringwertigkeit gegenüber dem Beurteilten zu erweisen und die Unfähigkeit zu dokumentieren, zu höheren Werten ebenbürtige Beziehungen zu gewinnen. Dieser Forderung dürfte schon subjektiv nicht so leicht zu entsprechen sein, objektiv aber scheint sie schon gar durch die zeitliche und räumliche Beschränkung eines kurzen Nachtreferates nicht erfüllbar. Das will heißen: Wer Karl Kraus mit ein paar Zeilen abtun möchte, ist kaum ernst zu nehmen und darum ist es keine mühsame Gier nach Besonderheit (um damit, vielleicht stilvoll, der Eigenart des gestrigen Abends ein Referat gegenüberzustellen, das eine besondere Wendung aufweist), wenn ich im folgenden nicht über den Vortragenden selbst, sondern über das Publikum ein paar Worte anschließe, die natürlich auch wieder auf ihn ein Schlaglicht zurückwerfen. So sehr Karl Kraus vielen Wienern verhaßt ist, so weit gilt er schon als geistige Potenz und fängt bereits an — so grotesk es anmuten mag — einer respektierten Autorität ähnlich zu werden, so daß nicht wenige, die ihm Beifall zollen, damit einen äußeren Nachweis ihrer eigenen Geistesschärfe zu erbringen glauben, ob sie ihn nun wirklich verstehen oder nicht. Aus dieser Angst, sich als begriffsstützig oder unintelligent bloßzustellen, erkläre ich mir bei einem Teil des Wiener Publikums das atemlos rasche Einsetzen des Beifalls gleich nach Vollendung des letzten Wortes, was keineswegs immer echt anmutet, da kaum anzunehmen ist, daß fein pointierte Aphorismen auch wirklich im Augenblick des Hörens verstanden werden, oder daß sie den Zuhörern bereits durch eigenes Lesen geläufig sind. Hier in Innsbruck setzte der Beifall immer ein bißchen später ein, ein paar Sekunden nachhinkend, als läge dazwischen noch ein kurzes Überdenken und verstehendes Erfassen. Für seine Echtheit scheint auch die Hartnäckigkeit zu sprechen, mit der Karl Kraus immer wieder hervorgerufen wurde und eine Zugabe nach der anderen anfügen mußte, trotzdem das angekündigte Programm schon um einige Nummern erweitert worden war. Und so gestaltete sich der Abend zu einem starken Erfolg für Karl Kraus und nicht minder für unser Innsbrucker Publikum. Durch seinen reichen Beifall hat dieses Publikum sein Verständnis bekundet, durch sein zahlreiches Erscheinen das ernst zu nehmende Interesse und so erscheint auf Grund dieses zweifachen Erfolges das Unternehmen des »Brenner«, der diesen Abend veranstaltet hat, doppelt verdienstlich.

K. Sch.

[Innsbrucker Nachrichten, 05.01.1912, zitiert in: Die Fackel 341-342, 27.01.1912, 48-49] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
05.01.1912