Rezension der Köbenhavn

Ein Karl Kraus-Abend

Von Karin Michaelis

Man hatte mir vorher gesagt: Gehen Sie nichthin, Sie werden nichts davon verstehen. Aber das war ein Irrtum. Ich verstand vieles, vielleicht die Hälfte, vielleicht nur ein Viertel. Aber was ich verstand, möchte ich nicht um vieler Premieren-Abende willen versäumt haben. Es war ein Erlebnis, und wer von uns sammelt nicht Erlebnisse?

Karl Kraus ist die Skorpionengeißel, die über das heitere, frivole Wien und Österreich, ja über die Grenze nach Deutschland hinein geschwungen wird. ‚Die Fackel‘ heißt die kleine Zeitschrift, die er herausgibt, in der Hauptsache selbst schreibt und die in ihrem blutroten Umschlag nichts als Feuersbrunst ist. Der glühendste Fanatiker ist er, zügellos in seinem Zorn, nicht Freund von Feind unterscheidend, blind hervorstürmend gegen alles, was sein haarfeines Rechtsgefühl verletzt.

Eine Stimme in der Wüste …

Ich hatte hie und da die ‚Fackel‘ gelesen. Vieles darin war von so lokalem Interesse, daß es an mir
vorbeiging. Aber manchmal las ich mit klopfendem Herzen etwas, was jeder Denkende verstehen konnte, etwas Packendes. Oft habe ich nachgedacht: Wie mag dieser Mann sein, der Zorn und Galle, wie ein verfolgter Tintenfisch sein dunkles Sekret, ausströmt? Jung oder alt? Wie und was ist dieser Karl Kraus?

Vor allem entsinne ich mich eines Fragments aus seinem Buch »Die chinesische Mauer«, wo er in zwei Spalten einander zwei Zeitungsausschnitte gegenüberstellte, die nicht riefen, sondern wie in Todesangst schrien gegen menschliche Ungerechtigkeit und Dummheit. Ein Dienstmädchen hatte ein uneheliches Kind geboren. Sie gab es in ein Dorf in Pflege, von ihrem geringen Lohn wollte sie vier Fünftel für das Kind opfern. Denn sie liebte es. Eine Woche oder einen Monat später gab man ihr das Kind zurück. Warum? »Wenn sie sterben sollte, würde das Kind der Gemeindefürsorge zur Last fallen.« Sie nahm das Kind und brachte es in ein anderes Dorf, aber auch da fürchtete man das vaterlose Kind anzunehmen. So versuchte sie es mit vier Dörfern. Dann tötete sie das Kind, und dann wurde sie zum Tode verurteilt. Karl Kraus zitierte das Gerichtsprotokoll kalt und nüchtern, ohne ein Wort hinzuzufügen. Sein Kommentar bestand darin, in der andern Spalte wörtlich einen Artikel aus einem katholischen Blatt abzudrucken, in welchem stand, wie man ungeborne Kinder im Mutterleibe zu taufen habe, wenn die Mutter im Sterben läge.

Wer nur so viel von Kraus gelesen hat, wird gesehen haben, daß er ein Mann ist, der nicht empört ist, nein, Seelenqualen leidet über all die Grausamkeiten, die rings in der wohlgeordneten Gesellschaft geübt werden.

Für Kraus gibt es nicht Vater oder Mutter, Freund oder Feind. Er ist ein Bruder für jeden leidenden Menschen. Und so tief fühlt er mit, daß sich sein ganzes Wesen krümmt, und er findet für seinen Schmerz als einzige Auslösung jene blutige Ironie, die die Menschen zum Stehenbleiben und Nachdenken nötigt.

Es gibt einen andern Weg, der vielleicht zum Ziele führen könnte: sanft und eindringlich das Evangelium der Liebe zu verkünden.

Entweder vermag er nicht oder er verschmäht, es zu tun.

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Der Saal ist bis zum letzten Platze voll. Die Jugend hat ihn gefüllt. Eine gährende, schöne Jugend. Nie habe ich auf einem Fleck so viele herrliche Jünglingsgesichter und so viele dunkelglühende fanatisch hingerissene junge Frauen gesehen.

Die Jugend ist so schön in ihrer flammenden, gläubigen Idealität. Und was tuts, ob diese Ideale im
Lauf der Zeit verblassen? Sie haben gelebt.

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Alle Lichter sind verlöscht. Nur da oben auf dem grün bekleideten Tisch leuchten zwei vereinzelte Kerzen. Sie funkeln unheimlich. Nun kommt Kraus. Jung, mit langen unbeherrschten Gliedern, scheu wie eine Fledermaus eilt er an den Tisch, verschanzt sich bang hinter ihm, kreuzt die Beine, streicht sich über die Stirn, putzt sich die Nase, sammelt sich wie ein Raubtier zum Sprunge, lauscht, wartet, öffnet den Mund wie zum Biß, klappt ihn wieder zu, wartet — — — — — —

Ein unendlich sanftes, unendlich trauriges Lächeln bebt über sein Gesicht. Eine flüchtige, vornehme, scheue Freude schmilzt alle Strenge in diesem jungen, geistvollen, verbitterten Antlitz. Seine nervösen Hände fahren über die mitgebrachten Arbeiten. Er fängt an, hart, nachdrücklich, energisch, bezwingend, durch Überzeugung bezwingend. Hätte er chinesisch oder persisch gesprochen, man wäre mit der gleichen Spannung gefolgt. Seine eigene innere Glut wirkt wie der Funke der vorbeirasenden Lokomotive auf die sommerdürre Prärie umher: alles flammt auf, während er spricht.

Aber mit Beängstigung begriff ich, daß alle diese jungen Seelen viel mehr von Kraus als von seinem tiefen, selbstverzehrenden Zorn ergriffen waren. Waren sie zu jung? oder waren sie zu sehr Wiener?

Fünf Viertelstunden lang schwingt er die Fuchtel des Worts, bald ist seine Stimme heiser von stillem Grimm, bald klingt sie melodisch, als flechte er die Strophe eines Volksliedes ein, bald steigert sie sich zu brüllendem Ungewitter, worin man kaum Wort von Schrei unterscheiden kann, bald durchschneidet sie die Luft wie Hiebe blitzender Waffen.

Die blauen Augen sehen durch die Brillen, zwischen den beiden Lichtern, in den dunkeln Saal hinein — eine Wüste, mit strahlender Jugend gefüllt.

Bald blitzt sein Kinderlächeln auf, bald ist er wieder
die unerbittliche Geißel.

Er macht eine Pause und eilt hinaus. Eilt, flüchtet — sein Schatten zeichnet sich riesengroß auf der Hinterwand des Saales — und verschwindet hinter einem Vorhang. Man applaudiert, man ruft, man jubelt. Er muß wieder hervor. Es wirkt schmerzhaft, wie wenn ein gestürzter Akrobat sich vor dem Publikum zeigen muß, um es zu beruhigen — dann mag er hinter der Szene zusammenbrechen.

Für Kraus sind diese Hervorrufe sicher, trotz seiner innern feinen und zarten Freude über die Huldigung der Jugend, das allergrößte Martyrium. Aber es muß so sein. Wieder liest er fünf Viertelstunden. Dann ist es zu Ende.

Aber man läßt ihn nicht los. Von oben und unten kommen Zurufe. Es ist genau wie in der Schule, wenn der Lehrer ein Märchen versprochen hat und nun fragt, welches er erzählen soll, und jedes Kind verlangt ein anderes.

Aus diesen Zurufen entnimmt man, daß das Publikum Krausens Werke auswendig weiß. Die Zurufe vereinigen sich auf etwas Bestimmtes: — Ja aber das ist zu lang, das wird zwanzig Minuten dauern, sagt er. Man jubelt! — Gleichwohl! Bitte lesen!

Und zwanzig Minuten lang liest er eine boshafte Parodie.

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Am nächsten Morgen wird man in der gesamten Wiener Presse vergebens suchen, und kein Wort über den Karl Kraus-Abend finden. Kraus hat die Jugend zum Freund und die ganze Presse zum Feind. Aber wahrhaftig nicht ohne Grund.

Grausam und grimmig zerfleischt er die armseligen Journalisten und Redakteure bei jeder Gelegenheit. Kein Wunder, daß sie sich mit Totschweigen an ihm rächen.

Aber wenn Karl Kraus in der ‚Fackel‘ ankündigt, daß er liest, dann füllt sich doch der größte Saal bis auf den letzten Platz.

[Köbenhavn, 14.11.1911, zitiert in: Die Fackel 336-337, 23.11.1911, 42-46] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 
Datum: 
14.11.1911