Rezension der Neuen Badischen Landeszeitung

.... Seine Formphantasie beschwingt die Realien und hebt sie in eine Sphäre, in der die Tore zum Visionären sich entriegeln und in der deshalb auch das Illusionäre der Gestaltung das Tatsächliche wertlos und gleichgiltig macht. Kraus’ Kunst der Darstellung verschwendet sich an die kleinen und kleinsten Vorwürfe, formt aber aus ihnen Gebilde, die so lebenskräftig sind, daß man ihres Ursprungs und Anlasses vergißt. Und daß man sie als Resultate und Aufgipfelungen einer ganzen Zeit empfindet. Das ist der schönste schriftstellerische Anreiz für Kraus: sich immer wieder mit seiner Zeit zu konfrontieren, mit ihr zu kämpfen, ihr zu fluchen und so eine neue Zeit, eine Zukunft bereiten zu helfen. Das Mißverhältnis zwischen der hellen Geistigkeit dieses Künstlers und den dumpfen Werten und Urteilen der Zeit mußte von vornherein die Beziehungen beider polemisch gestalten. So ist Kraus der prachtvollste Polemiker und Pamphletist geworden und so hat er aus der Zeit heraus die bittersten Anfeindungen erfahren. Ich meine damit nicht so sehr die offenen oder unterdrückten Gefühlsäußerungen derer, die Kraus selbst angriff, als vielmehr sein eigenes stärkster Reaktionen fähiges Gefühl, das sich immer und von Anfang an von dieser wesensfremden Zeit angegriffen fühlen mußte. Diese seine polemische Grundstimmung wurde in Kraus produktiv: er gelangte über die tendenziöse Polemik hinaus zur fast tendenzlosen Kunstform der Satire. Als Satiriker ist er ein Künstler von einzigartiger Bedeutung geworden. [...] An der Härte und Unerbittlichkeit seines Geistes läuft sich die Zeit wund bis zur abstrusesten Lächerlichkeit. [...] Man nennt derlei Zerstörertum. Aber ist dieses anarchistische Zerstörertum, ausgeübt von einem Souverän gedanklich erfüllter Formen, nicht produktiver und unvergänglicher als das bequeme Sicheinrichten und Wohlfühlen in den konventionellen Gehäusen unserer Gemeinschaft? Und ist dieses Zerschlagen von Formeln durch eine Form nicht der Sieg individueller Werte über typische Wertlosigkeiten? Was wir ererbt von unseren Vätern haben, wird uns zerstört, zersetzt, zernichtet, um von neuem und neu erworben zu werden. Das ist der große zeitgeschichtliche Kulturwert des Werkes von Karl Kraus. Die Tribüne seiner Polemiken und Satiren ist die ‚Fackel‘, eine der zugleich lustigsten und bittersten Zeitschriften, die es je gegeben hat. Und das Milieu seiner Wirkung ist Wien und Österreich, jenes weiche, zerfließende Wien und jener zerbröckelnde Staat Österreich. Sie häufen das Material rings um ihn auf; sie überschütten ihn mit satirischen Vorwürfen. Sie reizen ihn immer wieder zu satirischer Äußerung. Ungestalt lagern sie vor ihm. Er aber macht die Lahmen gehen und als Gestalten wandeln sie aus seinen Manuskripten. [...] So wirkt Karl Kraus, ein Schriftsteller unserer Tage, der Schriftsteller, der sein Recht zu schreiben gleicherweise aus der Kunst zu schreiben und aus dem Mut zu schreiben, herleitet.

[Neue Badische Landeszeitung, 14.02.1914 zitiert in: Die Fackel, 395-397, 28.03.1914, 38-39] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
14.02.1914