Rezension der Neuen Badischen Landeszeitung

[...]Bezwungen und darum bezwingend fließen ihm die Sätze aus der Feder — blitzblank; Waffe, Licht und Spiegel! [...] Diese Wirkung wird noch deutlicher, wenn Kraus sein geschriebenes Wort liest. Dann beglaubigt das gesprochene Wort das geschriebene und legitimiert es vollends als eigenbürtigste und souveränste Potenz. Und dann fühlt man auch, bis zu welchen Erschütterungen die Blutsverbindung dieses Künstlers mit seiner Sprachform und ihrem Ideengehalt reicht [...] Das ist vielleicht einer der sinnfälligsten Beweise für die unerhörte schriftstellerische Vitalität Kraus’. Was er als Vortragskünstler kann, ist gewiß bedeutend und dazu angetan, die Leute vom Fach und Bau zu beschämen. Aber es ist unerheblich angesichts jener tieferen Ursache seiner Vortragswirkung, die identisch ist mit seinem schriftstellerischen Furor, der sich auch Kehlkopf und Körper unterjocht.
Kraus las gestern vor einem kleinen Publikum; dieses aber schloß sich unter dem reinen Eindruck einer einzigartigen Persönlichkeit alsbald zu einer Gemeinde zusammen. Und aus der Lust an der tiefen Komik der Satire erwuchs eine Ergriffenheit über das tragische Pathos der Stellung dieses Satirikers zu unserer Zeit und Welt. So wie der Vorleser auf der Bühne sich mit der fortschreitenden Stunde immer hemmungsloser der Erneuerung seiner schriftstellerischen Konzeption hinzugeben schien, so wurde auch die Hingabe der Zuhörer an ihn selbst bedingungsloser. Darin bestand die Weihe der Veranstaltung, daß Kraus dem Tribunal, vor das er die Zeit und Zeitgenossen lud, um ihnen ihr Urteil zu sprechen, eine neue und neu entscheidende Publizität schuf. Er erzwang sich und seinem Werk — zum wievielten Male?! — Ehrfurcht und Glauben. Wie er, um ein Wort aus meinem Vorberichte zu wiederholen, sich mit der Zeit konfrontiert, so konfrontierte er durch seinen Vortrag sein Werk wiederum mit der Zeit. Und das Werk triumphierte und die Zeit erlag! Wer für den geistigen Wert eines solchen Vorgangs kein Verständnis hat, dem bleibt Karl Kraus fern und der bleibe auch ihm fern. H. S.

[Neue Badische Landeszeitung, 16.02.1914 zitiert in: Die Fackel, 395-397, 28.03.1914, 39-40] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
16.02.1914