Rezension der Neuen Züricher Zeitung

Karl Kraus rennt auf das Podium, und sofort schwirren Schwerter und Messer in der Luft. Auf welche Seite stellt er sich im Kriege? Welche Frage! Nicht auf die Seite aller Deutschsprechenden, aber auf die Seite der deutschen Sprache, die sich bei jedem Wort ihre Sache denkt. Höre man, wie er ohne die Zugabe eines eigenen Wortes etwa folgendes sagt: »Pater noster« heißt ein Liftaufzug, »Bethlehem« ist ein Ort in Amerika, in dem sich eine Munitionsfabrik befindet. Man hört es an wie eine Begriffsdämmerung. Der Irrsinn, nicht der Sprache, aber der Sprache der Zeit, ist erkannt: Er stellt die zwei in ewiger Verwechslung lebenden Wörter »Der Schild« und »Das Schild« als Verbindung von Merkur und Mars vor. Oder er legt den verdächtigen Bedeutungswandel des aktuellen Wortinhaltes, »Die Vorstellung«, bloß, und es läßt sich nicht leugnen, daß unser Ohr in einer Abendstunde von einem ungeheuren Verdachte gegen die Worte unserer Zeit beängstigt wird, weil hier Wesen und Surrogat des Wortes wie Wasser und Öl sich scheiden. Philologie mit innerem Herzton, Kulturphilosophie mit Gewissen, Erkenntnis mit leidenschaftlicher Beziehung zum Leben, das die Larven wenn nicht ablegen, so doch eingestehen sollte. Aber auch über die Akustik des einmal geprägten Wortes sagte der Abend im Schwurgerichtssaal Entscheidendes. Das geschriebene Wort bei Karl Kraus hat Zeilen, die »wie Augenlider sind und zwischen ihnen ein Gesicht«. Die Worte schreien nach ihrem Schöpfer, er allein gibt ihnen mündlich die rhythmische und tonale Beglaubigung, die sie als »Drucksache« nicht haben. Ich verweise auf seine »Worte in Versen« (der letzte Gedicht-Band von Karl Kraus, Leipzig 1916) und wage zu zweifeln, ob viele seiner Zuhörer den Übergang aus der Rede in den Vers (Kriegsberichterstatter«) entdeckt hätten. Von der Gewalt seines leidenschaftlichen Vortrags bleiben gewisse Sätze haften, man hat sozusagen als Mitbetroffener eine Beule von ihnen bekommen, z.B.: »Es handelt sich in diesem Krieg …« »Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!« Unvergessen wird das Kulturbild sein, in dem er die erschreckende Zweideutigkeit zeigt, mit der Kultur- und Kriegssymbole zur Einheit verschmolzen werden. Er stellt uns ein Plakat vor Augen für Mozarts Requiem: — — —

Vor seiner Shakespeare-Vorlesung legte Kraus noch einen Kieselstein auf seine Davidsschleuder, der galt den Shakespeare feiernden Berlinern: »Die Berfiner allein sind würdig, Shakespeare zu feiern; wenn sie ihn aufführen, ist er zum dreihundertstenmal gestorben.« Dann nahm sich Karl Kraus des der Bühne fremden, von Fragezeichen umstellten Shakespeare-Stückes »Timon von Athen« an: Die Geschichte von Timon Misanthropos, in der Karl Kraus, groß, überschwenglich groß in der Haßgebärde, mit dem Verbitterten eins wird, vor dem sich die Freunde als falsches Gold erweisen. Die Meisterschaft seines Vortrags schreitet hier weit über den Bereich des Schauspielers, weil er nicht »Rollen« sieht, sondern den tiefen menschlichen Zusammenhang. Bei der Rede des Timon, in der die Lügenbrut der Freunde statt des lockenden Gelages nur Schüsseln mit warmem Wasser erhält, lodern alle Haßbrände auf, und man merkt den Widerspruch kaum, daß Timon ihnen die Schüsseln und das heiße Wasser nachwirft, ein Edelmann aber wimmert: »Juwelen schenkt’ er gestern uns, heut wirft er uns mit Steinen.« In der neuen Shakespeare-Ausgabe von Wolfgang Keller erklärt der Herausgeber mit einer andern Vorlage des Stoffes »die Steine«, indem dort Timon den Freunden wie Artischocken bemalte Kieselsteine vorsetzt. Sicher hat der Vortrag von Kraus beides in seinen Schüsseln: die heiße Glut und den Stein der Satire.

Mit Sören Kierkegaards Brandwort über Journalisten begann er den Freitagabend im Schwurgerichtssaal, mit Shakespeare schloß er ihn. Er dulde keine Götter neben sich, sagen solche, die Kraus in Ruhestand versetzte. Wer ihn hörte, kam der Wahrheit näher und wird diesen Meister des Wortes und seines Klanges, diesen Rüttler und Schüttler nicht aus dem Auge, besser, nicht aus dem Gewissen verlieren. (Folgen Zitate.)

Der Widerspruch zwischen der Wassersuppe und den Steinen im Gastmahl des Timon (der der Erklärung »wie Artischocken bemalte Kieselsteine« nicht bedarf, da er wohl durch den rein metaphorischen Sinn der »Steine« aufgehoben ist, und dessen der Züricher Hörer schon darum nicht inne werden konnte, weil ich die Gespräche der Lords nach Timons Abgang nicht mehr gesprochen habe) findet ein greifbareres Pendant in einem lustigeren Gastmahl, das jetzt zum Beweis der Tatsache, »daß schon vor hundert Jahren Lebensmittel zurückgehalten wurden«, herangezogen wird:

Gustav Parthey erzählt in seinen »Jugenderinnerungen« ein lustiges Geschichtchen von der »Steinsuppe«, die zwei Reisende aus einem Dutzend sauber gewaschener Bachkiesel von der Wirtin zurichten ließen, als diese hartnäckig bei der Versicherung blieb, sie habe kein Essen. Aber sie wurde doch neugierig, ob die Steine weich werden könnten, als die Reisenden anordneten, sie müßten zunächst in Wasser gekocht werden. Als das nichts half, wurde Salz und etwas Butter hinzugesetzt. Dann forderten die klugen Leutchen einige Eier; nachdem auch diese eingeschlagen waren, wurde etwas Petersilie und gehörig Brot hinzugetan. Endlich folgte etwas Mehl. Nun begannen die Reisenden die Steinsuppe, die nach und nach genießbar und recht nahrhaft geworden war, mit großem Appetit zu verzehren. Wirt und Wirtin sahen mit Erstaunen zu, bemerkten aber dann, daß die Steine übrigblieben. Als sie nun äußerten: »Aber ihr eßt ja die Steine doch nicht!«, erfolgte prompt die Antwort: »Die sind wieder hart geworden; wenn ihr sie aber essen wollt, so müßt ihr sie morgen noch einmal aufkochen!«

In der Übersetzung der Dorothea Tieck findet sich keine Andeutung, daß die »Schüsseln voll warmen Wassers« eine Steinsuppe ohne genießbaren Zusatz enthalten hätten, wiewohl freilich die Verszeile, die vor: » … heut wirft er uns mit Steinen« steht, die Worte hat: »Lord Timon rast.« — »Ich fühl’s in den Gebeinen.« Aber die szenische Anmerkung: »Er wirft ihnen die Schüsseln nach …« erklärt dieses Gefühl hinreichend.

[Neue Zürcher Zeitung, 06.05.1916 zitiert in: Die Fackel, 426-430, 15.06.1916, 44-46] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 
Datum: 
06.05.1916