Rezension der Reichspost

Anmerkungen zu einer Kraus-Vorlesung.

Solange Karl Kraus sich begnügte, in seiner ‚Fackel‘ gepfefferte Polemiken, aphoristische Einfälle, Essays, Zeitsatiren und Glossen zu veröffentlichen, brauchte die Tagespresse, außer es behagte ihr gerade seine Zeugenschaft, davon nicht Notiz zu nehmen. Selbst der gewissenhaftesten Presse könnte es nicht zur Pflicht gemacht werden, nach Kabinettstücken deutscher Prosa zu fahnden, die Kraus gestaltet, wie einer, der Gewalt hat, mit jener souveränen Macht, die Neues schafft, Vergessenes wiederbelebt und deutet, Verblaßtes mit jungem Klang erfüllt [...]. Als Kraus begann, Auslesen seiner periodischen Veröffentlichungen auf den Büchermarkt zu werfen (es sei hier in Parenthese nur die kritische Studie ‚Heine und die Folgen‘ genannt, die über den Lyriker Heine sozusagen das letzte Wort spricht und Kraus für immer einen Platz in der Reihe der Klassiker unter den deutschen Kritikern sichert), da ward es Sache der zünftigen Kritik, aus deren Hebammenarmen das Lesepublikum alle Neugebornen entgegenzunehmen gewohnt ist, sowie der literarischen Fachpresse, sich mit Kraus irgendwie auseinandersetzen. Auch jene Tagespresse, die es liebt, ihre Verzeichnisse und ihre Besprechungen der von den Verlegern eingesandten Bücher als urkundliches Gesamtbild deutschen Geisteslebens und Literaturschaffens auszugeben, hatte nunmehr die Pflicht, wenigstens mit einer ihrer Rezensionsformeln Kraus dem Publikum vorzustellen oder, wenn es ihr beliebte, ihn abzutun. Schweigen war nunmehr Pflichtversäumnis, Unanständigkeit, Ignorieren eine Spekulation auf die Ignoranz.

Seit Karl Kraus unter die Vorleser gegangen und so aus einem Schaffenden ein Lokalereignis geworden ist, kann eine Tagespresse, die auch nur eine unbefangene Chronik des täglichen Geschehens zu liefern vorgibt, an ihm nicht mehr stumm vorübergehen. Es ist nicht ersichtlich, warum die Berichterstattung, die aus Berufspflicht gesprächig wird, wenn der kleine Korngold musiziert, Gregori deklamiert, Harden gastiert, oder Treumann randaliert, gerade nur dann im Kaffeehaus bleiben dürfte, wenn Karl Kraus an den Vorlesetisch tritt. Allerdings, daß Kraus — bei ihm ist es mehr als bloße Kaprize — geflissentlich die sonst übliche Verständigung der Presse unterläßt und mit ihrer Umgehung sein Auditorium zu finden sucht, erleichtert es, seine Vorlesungen zu überhören. In der Zweimillionenstadt, wo im allgemeinen der Raum nur die Registrierung einer Auslese des Tagesgeschehens gestattet, mag übrigens eine Zeitlang das Einzelereignis, und wenn es den Tatzeugen noch so bedeutsam erschiene, in der Fülle untergehen, ohne daß die geduldige Kundschaft über schlechte Bedienung klagte. In der Provinzstadt dagegen, wo jedermann Zeuge jedes Ereignisses ist und die Genauigkeit seines Chronikeurs nachkontrolliert, ist der Presse das Totschweigen unendlich schwerer gemacht. Kraus hat darum einen bösartigen Taktiker geoffenbart, als er, um die wider ihn mobilisierte schweigende Feme Wiens zu durchbrechen, mit seinen Vorlesungen literarisch interessierte Kreise der Provinzstädte aufsuchte. Die Wiener Donau kann den Zuflüssen aus der Provinz nicht die Aufnahme weigern und von der öffentlichen Meinung der Kronlandsstädte führen hundert Kanäle, die kein Zensor der Fichtegasse zu verstopfen vermag, in die Metropole. Ohnmächtig müssen die Wachtposten zusehen, wie das Unheil, das in die Stadt drang, seinen Lauf nimmt.

Uns ist die Kraus-Vorlesung, der wir am 6. d. im Saal der Kleinen Bühne beiwohnten, zunächst willkommener Anlaß, von unserem Standpunkte aus einiges über die eigenartige Stellung Kraus’ in der Wiener Publizistik und über sein Wirken zu sagen. Seit der Volksaufstand am Währinger Gürtel gegen die Wiener literarische Clique sich
in eitel Wohlgefallen und behagliche Opernmusik aufgelöst und das von Müller-Guttenbrunn geführte Banausentum glücklich in den allumarmenden Tempel der nicht mehr ganz »ignoten« Steyrermühl zurückgefunden hat, ist Karl Kraus allen denen, die sich nicht resigniert in die restlose Kapitulation, in die Demütigung vor dem Geßlerhut der Clique schicken wollen, sondern nur vom immer wiederholten Angriffe einen Morgen der Befreiung erhoffen, willkommener Rufer im Streit und Mauerbrecher. Was die positiv christlich gerichteten Literatenkreise an Angriffslust und ästhetischer Streitfreude erübrigten, wurde in den letzten Jahren leider fast gänzlich aufgezehrt in zwar gewiß nicht ergebnislosen, aber immerhin die Stimmung weiter Kreise lähmenden, herben, oft allzu herben Polemiken untereinander und kritischen Selbstbespiegelungen .... Die Kunststätten Wiens sind ein einziges Emporium des Literaturjudentums geworden. Die Clique herrscht so gut wie unumschränkt und hat alle Zugänge zum Publikum unter strengste Klausur gestellt. Wer nicht das Freimaurerzeichen weiß, wird nicht durchgelassen [...].

So horcht man denn aus dieser Trostlosigkeit erfreut auf, so oft die satirischen Flegel des unverdrossenen Dreschers Kraus erbarmungslos auf die Köpfe und Hohlköpfe des verhaßten Usurpatorentums niederprasseln. Der da drischt, kommt nicht aus dem Reiche der christlichen Weltanschauung. Im eigenen Walde ist den Literaturvögten die Zuchtrute herangewachsen, die nun ihre Rücken erbarmungslos peitscht. Ihr eigenes Fleisch ist — und vielleicht liegt gerade darin das Wirksamste der Erscheinung — da rebellisch geworden gegen den maßlosen Übermut der geistigen Knechter Wiens. Fernab der christlichen Ethik eilen oft Kraus’ Gedankengänge. Das offenbart sich am aufdringlichsten in der Behandlung des immer wieder aufgerollten erotischen Problems, das allerdings den Satirikern aller Jahrhunderte eine nicht minder beliebte als ergiebige Schaffensquelle war. Überdies darf bei Kraus, wer seine Lebensauffassung und manche seiner Äußerungen erklären will, den unverkennbaren Zug zur Ungebundenheit der Bohéme nicht übersehen, dieser gesellschafts-ästhetischen Reaktion gegen bürgerlichen Durchschnitt und reglementierte Philisterei.

Unter diesen ausdrücklichen Vorbehalten gegenüber der Geistesrichtung braucht kein Bedenken eine Würdigung des in seiner Art ganz einzigen Kampfes an dieser Stelle zu unterdrücken, den Karl Kraus seit zwanzig Jahren [...] mit erstaunlichem Talente, unerbittlicher Konsequenz und seltener persönlicher Tapferkeit führt. Die unerschrockene Auflehnung dieses Einen gegen das Duo von Clique und Claque, der Einsatz einer ganzen Persönlichkeit in diesem Krieg, aus dem nun langsam mit der unüberwindlichen Sieghaftigkeit des Genius der Verfemte und Totgeschwiegene als Sieger, als Verfolger seiner Verfolger und Ächter seiner Verfemer hervorgeht, das ist ein Schauspiel, so interessant und reich an ästhetischen Reizen als irgend eines, das während dieser Zeit den Wienern auf ihren Bühnen geboten wurde. An Polemikern und Satirikern, die mit Papiermessern vor den Augen des geuzten Publikums Scheingefechte ausführten und hinter der Szene einander mit englischen Pflästerchen aushalfen, litt Wien keinen Mangel, es durfte daher dem Neuling mit abwartendem Mißtrauen begegnen. Als ihn aber der bloßgestellte Häuptling derer, die selbst den Applaus untereinander gewissenhaft kontingentieren, vor den Kadi schleppte, als man ihn zweimal in öffentlichen Lokalen überfallen und tätlich mißhandeln ließ, um den gefährlichen Spötter in ewiges Schweigen zu schrecken, und all das mit negativem Erfolg — da war es klar, daß hier einer redete, der es mit seinem Gelächter und Spott, mit seinem immer jungen Witz, der eine ganze Stadt unterhielt, bitter ernst meinte [...]. Die es nicht zu erzwingen vermochten, daß er von ihnen schweige, wurden von ihm gezwungen, daß sie ihn totschwiegen. Sie mochten in ihrem Dünkel ihr Schweigen für seine Hinrichtung halten, es war aber ihr moralischer Selbstmord, der sich von dem Selbstmord, in den die Jambenpfeile des Archilochos ihren Adressaten jagten, nur unwesentlich unterscheidet. Als auch der letzte verzweifelte Versuch scheiterte, durch Lokalabtreibung dem Verhaßten den direkten Verkehr mit dem Wiener Publikum zu sperren, da vergaßen die auf der ganzen Linie überlisteten Grubenhunde des Schmocktums aufs Winseln und ließen das große Beben wie ein unabwendbares Fatum herankommen.

Man hat Karl Kraus schon mit der Formel »ganz wie Ferdinand Kürnberger« erledigen wollen. Die Ähnlichkeit beschränkt sich darauf, daß Kürnberger ebenso wie Kraus in der Region des Liberalismus geboren, eines schönen Tages der liberalen Preßkorruption in schärfster Fehde gegenüberstand. Aber Kürnberger kam mehr durch äußere Umstände gedrängt dazu, sich in diesen Kampf einzulassen, während Kraus ihn freiwillig, mit voller Überlegung, so wie etwa in den Ritterepen des Mittelalters die Ritter und Recken einander zum Kampf auf Tod und Leben herausfordern, beinahe mutwillig aufgenommen hat, innerlich provoziert von dem widerlichen Treiben, das er aus der Nähe besehen hatte. Kürnberger focht diesen Streit durch, wie er eben Zeitungspolemiken auszufechten gewohnt war; im übrigen blieb er bis an sein Lebensende der typische liberale Publizist und pedantische Nörgler mit
den ungenießbaren kulturkämpferischen Raunzereien des doktrinären Liberalismus jener Tage. Von Kraus dagegen gilt, daß er ganz in seiner selbstgewählten Mission aufgeht [...]. Für »Preßfeindschaft« — womit man den Preßboykott gegen Kraus zu begründen suchte — wird diese Auflehnung gegen die Überhebung und die Ausschweifungen des Schmocktums, eben nur der Schmock halten, dessen Werdegang Gustav Freytag ein für allemal geschildert hat. Gelegentliche — meist geniale — Übertreibungen, an die sich die Ausgepeitschten zu klammern suchen, liegen im Wesen der Satire; der Karikaturist ist kein Photograph. Die am meisten mißverstandenen Verulkungen der bodenständigen, ach so populären Gemüatlichkeit und Schlamperei, kontrastieren wirksam mit der Wucht und Bedeutung des übrigen; auch der Satiriker darf gelegentlich seinen Vortrag durch einen Scherz unterbrechen.

Der Vorleser Kraus nun ist der Vollender des Autors Kraus. So manchem Dichter am Vorlesetisch möchte man den freundschaftlichen Rat geben, sich und sein Werk einem Berufsdeklamator anzuvertrauen. Kraus ist sein bester Leser. Er beherrscht alle Register des Ausdrucks und gebraucht sie ohne jenes herausfordernde, selbstgefällige Raffinement, das an den Treibhausvirtuosen so verstimmt und den Hörer immer wieder aus der Unbefangenheit des Genießers reißt. Daß er die deutsche Sprache dialektlos spricht, ist vielleicht nicht überflüssig hier einzufügen. Er las zuerst mit erstaunlich reich abgestufter Tonskala der Empfindung die Mondnachtszene aus dem »Kampaner Tal« des Jean Paul. [...] Die schwärmerische Innigkeit dieser Stelle, für ein männliches Organ schier nicht zu bewältigen, strömte aus der Stimme des Vorlesers auf, zum Zuhörer über [...]. Als er aber sich selber zu lesen begann, da hörte man nicht mehr den Vorleser, da hatte man den Eindruck, Tatzeuge eines Ereignisses zu sein. Das war nicht Wiedergabe mehr, das war Neuproduktion. Und als er unter dem atemanhaltenden Schweigen des Publikums sich hinter dem Tische aufreckte und seine ganze Persönlichkeit in die Herausforderung warf, die der Schluß der »Faschingsunterhaltung« an die Bauernfeldpreisverteiler richtet, da hatte man das Gefühl, einem Spiele beizuwohnen, in dem es auf Tod und Leben geht [...] P. Th.

[Reichspost, 15.03.1912, zitiert in: Die Fackel 345-346, 31.03.1912, 22-25] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
Datum: 
15.03.1912