Rezension der Reichspost

(Letzte Krausvorlesung.) Am 20. Mai hielt Karl Kraus im Beethovensaale seine letzte Vorlesung. Der ausverkaufte Saal, die flammende Begeisterung der Zuhörer, ihr unermüdlicher Beifallsjubel — all dies sind so regelmäßige Begleiterscheinungen jeder Krausvorlesung, daß es überflüssig erscheint, darüber immer wieder zu berichten. Auch über Karl Kraus selbst, über die grandiose Art seines Vortrages und über den hohen sittlichen Wert des Vorgetragenen nach jeder einzelnen Vorlesung zu berichten, fällt einigermaßen schwer. Steht doch die Kritik, die ehrlich ist, diesem Phänomen immer mit dem schmerzlichen GefühIe einer gewissen Schwäche gegenüber, einer gewissen Unfähigkeit, im Antlitz dieser einzigartigen Erscheinung neue, wesentliche Züge aufzuspüren. An der herrlichen Glut dieses brennenden Dornbusches droht jedes Streben nach gedanklichem, kühlem Erfassen zu erstarren. Im übrigen sei in diesem Zusammenhange auf drei »Studien über Karl Kraus« hingewiesen, die im Brennerverlag, Innsbruck, erschienen sind. Die Broschüre enthält die Aufsätze: Karl Dallago »Karl Kraus, der Mensch«, Ludwig von Ficker »Notiz über eine Vorlesung von Karl Kraus« und Karl Borromäus Heinrich »Karl Kraus als Erzieher«. Unter den vor Ehrfurcht und Liebe bebenden Händen dieser drei Autoren fand sich ein Bild, das der Wesenheit des großen Satirikers zum ersten Male nahekommt. Das Letzte über ihn zu sagen, wird freilich einer viel späteren Zeit vorbehalten bleiben. H. B.

[Die Reichspost,  27.05.1913, zitiert in: Die Fackel 376-377, 30.05.1913, 27-28] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

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Datum: 
27.05.1913