Rezension der Schaubühne

Sie schicken mir ein Blatt mit einer gigantischen Schmockerei, die ich »festnageln« soll. Nicht doch. Daß die Alice Schalek existiert, das könnte einem den Glauben an die Menschheit nehmen, wenn es nicht den Karl Kraus gäbe, um dessentwillen man ihn nie verlieren wird. Er spaltet eine solche Existenz mit einem leichten Kernhieb mitten durch, indem er einfach ihren Namen nennt. Ich übertreibe nicht. Er sitzt im Architektenhaus und sagt zunächst nichts weiter als: »Die Schalek.« Er sagt nicht, wie er in der ‚Fackel‘ schreibt: »Die wackre Schalek forcht sich nit« — nein, bloß: »Die Schalek.« Und seine Sprechkunst, die Beherrschung schon des Klangs von wenigen Silben ist so eminent, daß man zu hören meint: schal, Ekel. Speichelleckerei. Der reife Kraus demoliert die Literatur, wie der Anfänger; aber nicht mehr so, daß er mit einem regelrechten Angriff die Journaille ungebührlich ehrt — nein, bloß: indem er ihre Leistungen zitiert. Erläuterung überflüßig. Gänsefüße, wieder Gänsefüße; und man sieht zur Rechten und zur Linken einen halben Zeitungsschreiber niedersinken oder gar die Zeitung selbst. Kraus spricht ein paar »satirische« Verse von einer erschreckenden Gesinnung, die man nicht einmal den Lustigen Blättern zutraun möchte; dann erklärt er donnernd, daß sie nirgend anders als im ‚Simplicissimus‘ gestanden haben: und dieser muntere Kriegslieferant, der am ersten August 1914 seine ganze Vergangenheit zu Wucherpreisen verhökert hat, ist für alle Zeiten erledigt. Kraus verliest den Kondolenzbrief eines Botschaftsrats an die Neue Freie Presse, worin der Mann beschreibt, wie er den Kriegsbeginn an der Seite des verstorbenen Chefs auf der österreichischen Botschaft zu Berlin miterlebt habe: und es wäre eine Herabsetzung dieses Meisterstücks, es überhaupt so zu nennen, und wenn es doch so genannt wird, eine Unter- schätzung seines artistischen Werts, nicht ein Schock Theatervorstellungen dafür hinzugeben. Alles ist drin: das Wesen der Presse und der Diplomatie und der österreichischen Monarchie und die Stimmung des Kriegsausbruchs und der Schrecken des Kriegs und die Tragik Shakespeares, in dessen gewaltigstes Pathos Kraus am Ende übergeht. Er ist ihm gewachsen. Unerschöpflich die malende Kraft seiner Stimme, eines stählern blanken Tenors, seines hagern Gesichts, in dem die Nerven offen zutage liegen und gar seiner bebenden Hände. In einem seiner poetischen Ausbrüche wider den Krieg heißt es, schaurig genug: »Der Fortschritt geht auf Zinsfuß und Prothese« — und da stelzen die Finger der rechten Hand diesen Gang so anschaulich vor, daß es einem eiskalt über den Rücken läuft. Manchmal glaubt er zu all seinen Ausdrucksmitteln noch eines nötig zu haben, und dann erhebt er sich, und hochaufgerichtet ruft er: »Du großer Gott« und zwanzigmal ruft er: »Du großer Gott, der …« — und da unterscheidet ihn nichts mehr von einem Propheten des Alten Testaments. Er schreit, »der Mensch schreit« und klagt und klagt an, daß der Untergang unsres Planeten nahe ist, und er greift sich die Schuldigen her und straft sie furchtbar, und Keiner schluchzt schmerzgepeinigter über das Strafgericht, als der es vollzieht. Mittendrin zittert man einen Augenblick, vor was für Leuten dieser zarte Riese dort oben sich die Brust aufreißen und das Blut seines Herzens verströmen mag, und wendet sich beklommen ringsum: und da erkennt man beruhigt, daß man kaum jemals so viele geistige, seelenfeine Gesichter versammelt gesehen hat. Diese Zuhörerschaft verdient, daß der Sprecher behutsamste Sorgfalt an Auswahl, Anordnung, Steigerung seiner ‚Programmnummern‘ wendet. Ein Mikrokosmus in hundertzwanzig Minuten (nach deren Ablauf man kindisch dankbar wäre, noch dreimal zwei Stunden atemlos staunen zu dürfen). Der ganze Karl Kraus von heute: der Pamphletist europäischen Stils, um nichts geringer als Aretino, aber in seiner Charakterreinheit ihm unvergleichbar; der herrlich besessene Weltfreund, dessen peitschender Zorn nur — was denn sonst! — gekränkte, beleidigte, weinende Liebe ist; und zuletzt, und zuerst und zualleroberst, der erlöste Lyriker, erlöst von der Hypertrophie des Gehirns zu … wozu? Vernehmen Sie ein Gedicht wie dieses: »Stimme im Herbst, verzichtend über dem Grab Auf deine Welt, du blasse Schwester des Monds, Süße Verlobte des klagenden Windes, Schwebend unter fliehenden Sternen — Raffte der Ruf des Geists dich empor zu dir selbst? Nahm ein Wüstensturm dich in dein Leben zurück? Siehe, so führt ein erstes Menschenpaar Wieder ein Gott auf die heilige Insel! Heute ist Frühling. Zitternder Bote des Glücks, Kam durch den Winter der Welt der goldene Falter. Oh knieet, segnet, hört, wie die Erde schweigt. Sie allein weiß um Opfer und Thräne.« Ich will nicht auch noch eins von den Kriegsgedichten hersetzen, weil Sie sie sämtlich lesen sollen; aber ich bin neugierig, wie unsre Kriegsgedichtsammler einmal verantworten werden, daß sie den Dichter übergehen, vor dem selbst ihre Parade-Autoren verblassen. Er ist das Schwert, er ist die Flamme; und seine Schläg’ und Gluten sind von allen dadurch unterschieden, daß sie die Opfer anderswo als bei den »Feinden« suchen. Wenn die »Kriegsfackel« einst erloschen sein wird, werden die Kriegs-‚Fackeln‘ weiter von der Zeiten Schande künden und in eine bessere Zukunft leuchten. Muß da nicht jetzt schon unsereiner helfen, daß sie’s tun? Im Ernst: die Wirkung dieser Strahlen unverstärkt zu lassen, scheint mir Versündigung am heiligen Geist. Ich will nicht länger solcher Sünde bloß sein. Ablehnung dieses Kraus, beredte oder stumme, ist Notwehr, Feigheit, Selbstbetrug. Gestehen wirs uns ein: wir sind Pygmäen neben ihm. Wie Wenige von uns entrinnen dem Bezirk der Leidlichkeit und angenehmen Löblichkeit! Die harte Ungewöhnlichkeit behagt uns schlecht, gar wenn sie sticht. Das ist das unausrottbar bürgerliche Teil in uns Talenten. Kraus ist aus unbezwingbarerem Stoff gemacht. Für schwache schöne Seelen ist er nichts. Schon an der überlegenen Naturanlage ihres Erzfeinds werden sie zuschanden. Klug ist allein, wer eines Tags sich kühn entschließt, ihn grenzenlos zu lieben, weil ihn der Mut verließ, ihm gleich zu sein. Gesellt euch mir, der für ihn zeugt und zeugen lassen will. Vergelten wir ihm, was er zwanzig Jahre, fanatisiert von jeder wahren Größe, jeder wahren Sittlichkeit, für sie und wider Finsternis und Unkunst aus- gerichtet hat. Kürnberger wäre einverstanden, der vor vierzig Jahren, wie sein Landsmann Kraus, zehntausendmal so viele Leser hätte haben müssen, als er hatte. Werben wir für diesen Menschen einziger Art und für sein Wunderwerk. Erklären wir ihn seiner Mitwelt, die ihn nicht verdient, damit sie ihn verdienen lerne. Dieses hier ist nichts, ist nicht einmal der Auftakt, ist ein Trompetenstoß vor dem Beginn. Gedulden Sie sich noch ein bißchen — — — — — — Dann freilich kommen Sie nicht unter acht, neun Nummern weg. Zuviel? Ich weiß schon jetzt, daß es zuwenig ist. Dies ist ein Fall, wo wir nicht eher Ruhe geben dürfen, als bis die ‚Fackel‘ durch ganz Deutschland leuchtet — unendlich Licht mit ihrem Licht verbindend.

[Die Schaubühne, 15.02.1917, zitiert in: Die Fackel, 454-456, 01.04.1917, 30-33] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

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Datum: 
17.02.1914