Rezension der Vossischen Zeitung

Vorlesung Karl Kraus. Ein Wiener »Raunzer« hat gestern im Verein für Kunst gelesen — einer von denen, deren Raunzerei Kraft genug hat, um allgemach die lokalen Schlagbäume zu überschreiten und sich zur Weltraunzerei auszuweiten. Der Ausdruck ist rein wienerisch gleichwie der Typus. Wir haben sie auf norddeutschem Boden nicht, diese schmälenden, scheltenden, angriffslustigen und doch so scheuen Naturen. Wienertum, Junggesellentum und Raunzerei vereinigt sich in ihnen zu einem Dreiklang, in dem die einen eine unholde Schärfe, die anderen eine über den Alltag hinaustragende Harmonie vernehmen. Karl Kraus, der ‚Fackel‘-Kraus, ist auf demselben Boden gewachsen, wie Grillparzer, Bauernfeld, Kürnberger und viele, viele andere, die ihren Unmut entweder (mit weniger Begabung als er) im Schrifttum oder, wenn sie das nicht können, an den Stammtischen der Wiener »Beiseln« (wie man dort die kleinen Gasthäuser nennt) austoben. Einsame Spatzen, die der Welt vorpfeifen, daß sie auf sie pfeifen. Antagonisten der Wiener sorglosen Weltfreudigkeit. Leute, denen die Fee an der Wiege aufgetragen hat, gegen den Strom zu schwimmen, bis sie an die Quellen kommen, die auch nur Wasser sind. Karl Kraus ist ein tüchtiger
Schwimmer. Rechts und links teilt er kräftig die Wogen, daß es nur so schäumt und glitzert. Ein Künstler, dessen Prosa wie geschliffener Stahl funkelt. Blitzartig jagen einander überraschende Einfälle, Thesen und Antithesen, aufgereiht auf dem Grunde einer kunstvoll ungekünstelten Sprache. Er las gestern etwa eine halbe Stunde lang Aphorismen, dann ebenso lang eine Betrachtung über die Ermordung der Else Siegl in New-York. Ein Schock Aphorismen oder mehr auf einmal ist schwer zu vertragen. Selbst dem Leser, der sich Zeit lassen kann, sein Gehirn auf stets neue Pointen einzustellen, kann solche Überfülle leicht zum Überdruß werden. Dem Hörer schwirren sie wie eine Schwalbenschar ums Haupt. Ein einzelner Aphorismus, wenn er gut ist, wärmt den Kopf, ein Aporismenregen wirkt wie ein Sturzbad. Ein Genuß war das also nicht. Die Else Siegl-Phantasien dürfen als das hingenommen werden, was sie sind: als Phantasiestücke. Kraus greift zur Palette, mischt das Weiß der kaukasischen Rasse mit dem Gelb der mongolischen, tut die Blutröte hinzu und das düstere Grau des Grauens und macht daraus ein Bild der brünstigen Umschlingung der gesamten weißen Frauenwelt durch die geIben Schlingels. Eine gelbe Gefahr Krausscher Prägung, Weltuntergang im gelben Sumpfe, worin Religion, Moral, Kultur und wie die schönen Dinge sonst noch heißen, rettungslos versinken. Über dem Schreckenssumpfe aber schwebt Karl Kraus und lacht uns alle aus.

Kraussche Götterdämmerung, ein grandioses Gemälde, in dem die Glut des Dichters steckt und die Wollust des — Raunzers. Wer so schreiben kann, wie Karl Kraus, darf auch so etwas schreiben ....

[Vossische Zeitung, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 29-30] - zitiert nach Austrian Academy Corpus