Rezension der Vossischen Zeitung

Karl Kraus, der Mann der Wiener »Fackel«, las im Bechsteinsaale vor einem Kreise treuer Hörer. Ihrem Enthusiasmus bot er zwei Akte aus Hauptmanns »Webern« und den Epilog seiner eigenen Kriegsdichtung »Die letzten Tage der Menschheit«.

Dieser glühende Geist hat sich schon vor dem Kriege, zum Unterschiede von seinen Nachläufern, das Recht erworben, zum Zeitenwahnsinn Nein zu sagen. Sein Temperament brennt Wunden, sein Witz streut Salz hinein, wenn er über ein Pandämonium von Heerführern, Kriegsberichterstattern, Schiebern, den Weltuntergang hereinbrechen läßt. Er müßte freilich nicht Karl Kraus’ scharfe Augen haben, sollte er nicht sehen, wie sein schöpferisches Talent im Format das Ungeheure des Problems verfehlt. Aber die Kritik verstummt beim Anblick, wie sich diesem Vorleser der Haß eines ganzen Lebens entlädt. Denn seine Vortragskunst enttäuscht auch die höchsten Erwartungen nicht. Keine »Weber«-Aufführung kann die Luft im Saale stärker mit Hauptmannschem Mitgefühl sättigen, als dieser einsame Leser. Er bringt aufs Podium ein Buch mit, eine Stimme, die singen, zittern, gewittern kann, und eine Hand, mit ihren Gesten eine heftige Helferin der Worte, die aus den schmalen Lippen dringen. Von Brahms Szene scheinen Töne wiederzuklingen, etwa wenn der alte Baumert greint. Doch mit Kunstfertigkeit könnte ein Rezitator wetteifern. Warum nicht mit dem Erlebnis des Vorlesers K.? Weil sich hier etwas auftut, jenseits des Artistischen. Vater Baumert mag es aussprechen, wenn er zu Karl Kraus, wie zum Jägermoritz spricht: »Du kannst lesen und schreiben. Du hast a Herze fer de arme Weberbevelkerung.« M. J.

[Vossische Zeitung, zitiert in: Die Fackel 531-543, 04.1920, 31-32] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
23.01.1920