Rezension der Wage

Da die offiziellen Hüter der Literatur erst bei Hardens »Köpfen« halten, so sei hier inoffiziell auf das neue Buch von Karl Kraus »Pro domo et mundo« aufmerksam gemacht, das ähnlich wie seine erste Aphorismensammlung das bedeutsame Werk eines Denkers ist. Pro domo et mundo. Ja, diese beiden Instanzen sind ihm eins geworden .... Darin liegt auch das Problematische seines Wesens, seine Größe und zugleich auch die letzte Ursache aller Verkennung: er hat eine Mission auf sich genommen, die in demselben Moment aus dem Individuellen ins Absolute hinausgreift, wo er es unternimmt, in sich das Kulturgewissen zu personifizieren. Er hat nie etwas Geringeres angestrebt. Die Urwälder der Dummheit und Bosheit will er aus dem Boden reißen, weil sie sich ihm vor die Aussicht in eine schönere und bessere Welt gestellt haben, und wenn er sie nicht wegtilgen kann, so möchte er sie wenigstens wegfluchen kraft seiner Sehnsucht und Begeisterung. Das ist die Art seiner Polemik, »wahrlich ein Exzeß, den der Rausch nicht entschuldigt, sondern rechtfertigt.« Wenn man guten Willen aufbrächte, so könnte man Karl Kraus von hier aus verstehen und könnte bemerken, daß er nicht im Dienste irgendeiner sozialen Gemeinschaft kämpft, sondern im Dienste einer Kultur, die da kommen soll, und für eine imaginäre Gesellschaft der Zukunft. Da aber vielleicht erst eine spätere Generation seine Legitimationspapiere zu vidieren imstande wäre, so gilt er in der Kultur des XX. Jahrhunderts als ein gefährlicher Zugereister und wird von ihren Bütteln auf dem Forum der Presse in geheimer Verhandlung zum Tode des Verschwiegenwerdens verurteilt. Indessen schafft er unbekümmert und rastlos an seinem Werk, das gerade erst am Widerstande stark und groß wurde, das Werk eines Weltanschauers und Weltdurchschauers, gleich unerbittlich gegen sich selbst wie gegen seine sogenannten Opfer .... Und sie alle müssen fallen, mögen sie ihm nahe oder ferne gestanden haben. Wo der kategorische Imperativ seines empfindlichen Gewissens alteriert ist, da kennt er nichts Gefühlsmäßiges und engbegrenzt Subjektives, niemand hält die inappellable Guillotine seines ethisch-künstlerischen Schemas auf.

 

Es ist lächerlich, Karl Kraus zu den blinden Verneinern zu rechnen; gewiß, er zerstört, aber was er zerstört, das sind stets geile Tagesgrößen. Es gibt kaum einen Schriftsteller, der den Willen zum Wert, zum künsterischen und kulturellen Wert so fanatisch und selbstverleugnend in den Mittelpunkt seiner Handlungen stellt. Und dieser Wille zum Wert ist sein Pathos, sein Stolz und der Quell seines Schmerzes; mit nichts ist er tiefer im Geistesleben verankert, mit nichts reckt er sich höher über das Niveau seiner Zeit empor und nichts läßt ihn gerechteren Zorn fühlen und tieferes Leid ermessen als gerade sein Pathos, das leidenschaftverklärtes Leiden ist. Denn alles ist ihm angetan, weil er das Ideal in sich trägt und weil er nicht mehr als Individuum, sondern als Standpunkt in Betracht kommen will.

 

Daran hat man früher zweifeln dürfen; wer aber Kraus einmal am Vorlesetisch beobachtet hat, der konnte hören, wie sein Schmerz aufschreit und sein Spott gellend lacht und wie dagegen sein schamhaft gehütetes Gefühlsleben manchmal verwundert die großen Augen aufschlägt und kindhaft verträumt nach Jean Pauls oder Liliencrons Sternen schaut. Wer das je miterlebt hat, der könnte nun endlich einmal wissen, daß da droben einer liest, der das Problem erleben kann und den Satz und das Wort und die Interpunktion und noch tausend anderes dazu .... Und wenn er dann die Menschen packt und ihre Allzumenschlichkeit zwischen zwei Beistrichen zu schanden macht, wenn er ihnen mit einem spitzen Relativsatz ihr überzeugungstreues Philisterherz durchlöchert, da hat man ein sonderbares Gefühl, welches vielleicht nur mit demjenigen zu vergleichen ist, das die Athener gehabt haben müssen, wenn Aristophanes ihnen ihre Stadt sub specie aeternitatis zeigte.

 

Aber das Publikum kann meiner Meinung nach das Niveau nicht halten: bald gluckst da ein Lachen auf, bald wiehert zur Unzeit von dort eins herüber, und alle diese Naturlaute kommen aus einer himmelweit ent- legenen Welt .... Denn das Eine bleibt ja doch unangefochten bestehen: Kraus wird von Tausenden gehaßt und von Hunderten bejubelt, aber nur wenige sind es, die bis zu ihm selber hinfinden. Er ist vielleicht einer der Einsamsten, die mit uns leben. Sein unbeugsamer Stolz wird auch einmal die Worte finden: »Ich danke ab — aber nicht als König — sondern nur als Mensch!« Denn seine Werke als König von der Sprache Gnaden werden dauern, solang ein einziger Deutscher noch ihren Zauber fassen kann. Sie sind unübersetzbar, eben weil er durch die Sprache denkt, und das ist wohl der glänzendste Beweis, daß Form und Inhalt zu einer unerhörten, untrennbaren, neuen Einheit zusammengewachsen sind. Kraus hat Aphorismen geschrieben, die man keinem Setzer geschweige denn einem Übersetzer beruhigt anvertrauen könnte, denn vor solchen Aufgaben beginnt die Maschine zu stolpern und irre zu reden und der findige Intellekt der »Sprachgewandten« gibt es auf, mit dem leibhaftigen Geist der Sprache zu ringen.

[Die Wage, zitiert in: Die Fackel 347-348, 27.04.1912, 28-30] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

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Datum: 
06.04.1912