Rezension der Zeit am Montag

Ein Kulturkämpfer. In Wien kämpft seit über zehn Jahren mit fast übermenschlicher Kraft und Ausdauer ein Mann gegen alles das, was der Durchschnittsmensch der Gegenwart »Kultur« nennt. Er gibt eine Zeitschrift, ‚Die Fackel‘, heraus, ein Organ, das — fast ausschließlich vom Herausgeber selbst geschrieben — an Kühnheit und Selbständigkeit seinesgleichen sucht. Mit dieser Fackel leuchtet Karl Kraus der »Journaille«, der Moral, der Sittlichkeit und mit besonderer Vorliebe auch dem Generalpächter dieser und aller anderen Kulturmomente, Herrn Maximilian Harden, mit einer Dialektik heim, deren funkelnde Schärfe nicht einmal von der kristallenen Klarheit seines Stils übertroffen wird. Im besonderen liegt Karl Kraus seit Anbeginn seines Kulturkampfes in heftiger Fehde mit der »Kriminalität«, die sich der »Sittlichkeit« als Büttel bedient, um gemeinschaftlich mit ihr das Recht abzumurksen. Auf diesem Gebiete hat er Unvergängliches vollbracht; erst späteren Generationen wird es ins Allgemeinbewußtsein dringen, was dieser Mutige für Recht und Menschentum geleistet hat. Sein Werk »Sittlichkeit und Kriminailtät« ist das Dokument eines wahrhaft überlegenen Geistes, der von der hohen Warte einer in sich starken und glühenden Persönlichkeit die Vorgänge auf dem Theater unserer Kultur an sich vorübergleiten läßt. Man schlage einmal den Band »Sittlichkeit und Kriminalität« auf und lese das Kapitel »Ein Unhold«. Hier hat Kraus gelegentlich eines kriminellen Falles mit Meisterschaft die empörende Gemeingefährlichkeit der Strafgesetze und deren Anwendung durch »gelehrte« Richter aufgezeigt — eine Rechtspflege, gegenüber welcher zuweilen die Lynchjustiz ein Ziel aufs innigste zu wünschen wäre, da sie ihr Opfer wenigstens auf der Stelle vernichtet, anstatt es jahrelanger, ja selbst lebenslanger Grausamkeit auszuliefern. — Die Gerichtspsychiatrie nennt Kraus einmal das unterhaltendste Gesellschaftsspiel und zum Thema der berüchtigten Unzuchtsparagraphen äußert er sich wie folgt: »Der Gesetzgeber, der heute so ahnungslos am Geschlechtsleben herumstümpert, könnte sich wohl nützlich machen, wenn er ins freie Feld der Lust die Vogelscheuche des Paragraphen stellte, aber um nur drei Rechtsgüter zu schützen: die Gesundheit, die Willensfreiheit und die Unmündigkeit.« Daß ein Mann von dieser Artung vom Gros der Reporter mit Elan totgeschwiegen wird, versteht sich von selbst und ist neben ihrer Befürchtung, gelegentlich selbst einen Hieb abzubekommen, zum nicht geringen Teil wohl auch in der bitteren Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit begründet. So ist es denn auch erklärlich, daß die Mehrzahl der Blätter, die mit Wonne halbe Spalten über Gesangvereinsfestlichkeiten berichten, von Kraus keine Notiz nahmen, als er am Donnerstag bei Cassirer aus seinen Schriften vorlas. Lediglich das ‚Berliner Tageblatt‘ brachte es über sich, in bescheidenen Grenzen dem Geist zu geben, was des Geistes ist …

[Zeit am Montag, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 35-36] - zitiert nach Austrian Academy Corpus