Rezension des Berliner Börsen-Couriers

Vor dem Verein für Kunst erschien gestern abend im Salon Cassirer eine interessante Wiener Persönlichkeit, der Herausgeber der ‚Fackel‘, Karl Kraus. Er las zuerst eine Reihe von Aphorismen vor. Sie frappierten durch ihre Eigenart, ihre originelle Bizarrerie, vielfach durch ein Wetterleuchten des Tiefsinns, dem man nur in der Eile nicht gleich nachgehen konnte. So war es anfangs. Dann beging aber Kraus einen seltsamen, einen unbegreiflichen Fehler: er gab das Geheimnis seiner Kunst preis, er enthüllte seine »Mache« wie ein Taschenspieler, der das Wie seiner Tricks dem Publikum aufdeckt.

Es geschah das durch eins seiner Aphorismen selbst. Er sagte darin: »Ich beherrsche die Sprache nicht, die Sprache beherrscht mich. Ich hauche ihr nicht meine Gedanken ein, sie füllt mich mit ihnen!« Mit diesem Geständnis entlarvte sich Kraus, wenigstens mit Bezug auf seine aphoristische Kunst. Man hatte nunmehr nur nötig, bei jedem nachfolgenden Aperçu die Probe auf das Exempel zu machen, um zu finden,daß die Sache ziemlich leicht ist, daß Jeder auf diese Art ganze Bände mit geistvollen Gedankenblitzen füllen könne. Man nehme nur irgend einen Satz und schüttle die Worte durcheinander. Das wird irgend ein groteskes Etwas ergeben, das verblüfft, das Sinn hat oder Sinn zu haben scheint. Zum Beispiel: Anstatt des Spruches, »Am Grabe pflanzt der Mensch die Hoffnung auf«, sagte man: Hinter jeder Hoffnung gähnt das Grab auf. Nicht mit dem Tode beginnt erst das Leben, sondern mit dem Leben beginnt der Tod — oder: Mit jedem Beginnen töten wir das Leben, oder auch: Mit jedem wahrhaften Leben töten wir den Tod. Der Weg zu guten Vorsätzen führt durch die Hölle. Wer den Taler nicht achtet, ist keinen Groschen wert. Doch nehmen wir einmal eins dieser Krausschen Aphorismen selbst! Er sagt: Der Mann schaut in den Spiegel aus Eitelkeit, die Frau, um sich ihrer Persönlichkeit zu vergewissern. Gut, sehr gut! Aber hat es nicht umgekehrt dieselbe Berechtigung? Oder wenn man behauptet: Wenn eine eitle Frau sich eines Mannes vergewissern will, so beschaut sie ihre Persönlichkeit im Spiegel, oder auch wieder umgekehrt. Oder noch schöner, die Eitelkeit der Frau spiegelt ihre Persönlichkeit am liebsten in den Versicherungen des Mannes! — Doch genug davon! Jedenfalls mußte einem damit der Geschmack an allen weiteren Krausschen Aphorismen einigermaßen verdorben sein. — Den zweiten Teil des Abends füllte die Vorlesung der »Chinesischen Mauer«, einer Kette aneinandergereihter Aphorismen, in denen der Verfasser auf dem Wege vom Himmel durch die Welt zur Hölle so ziemlich Alles, was da kreucht und fleucht, abhandelt und abkanzelt; ein Mephisto, der Alles verneint, und das in einem Ton, in einer Form, gegen die des Junker Satans »unanständige Geberde« noch hoffähig erscheint.

[Berliner Börsen-Courier, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 30-31] - zitiert nach Austrian Academy Corpus