Rezension des Berliner Tageblatts

Karl Kraus, der Herausgeber der Wiener ‚Fackel‘ stellte sich uns gestern abend auf Einladung des Vereins für Kunst im Salon Cassirer zum ersten Male als Redner vor. Dieser Mann, der mit der Flamme in Wahrheit auf du und du steht, erschien am Vortragspult als ein kleinerer, glattrasierter Herr, der durch seine goldene Brille sehr gutmütig und harmlos ins Publikum blickte. Freilich, mit dem ersten Wort ändert sich der Eindruck. Karl Kraus ist ein ungeheuer nervöser, energischer Sprecher, ein Autor, der seine Gedanken im Vortrage noch einmal erzeugt, ein Pointeur ersten Ranges.

Eine solche Beherrschung des Ausdrucks ist zweifellos gerade bei ihm aus seinem innersten Wesen, so wie es sich heute darstellt, zu erklären. Denn er ist vom Tageskritiker, der ursprünglich ganz
allein nur auf das Inhaltliche ausging, längst zum künstlerischen Betrachter der Lebensprobleme emporgewachsen, zu einem Betrachter, dem die Form zum Leitstern geworden ist. Seine Aphorismen »Sprüche und Widersprüche«, aus denen er zunächst einige Proben gab, beweisen in ihrer geschliffenen, funkelnden Kette diesen Triumph des Wortes über ihn. Er brauchte es nicht noch selbst zu sagen, daß er sich mit Stolz zu denen rechnet, die aus der königlichen Hand der Sprache ihre Gedanken empfangen.

So entspricht das Bild, wie es der Hörer von einer so ungewöhnlich reichen und glänzenden Individualität empfängt, jener nicht mehr völlig beherrschten Art des geistigen Produzierens. Man war hingerissen von einer Schilderungskunst, die ein Kindheitsbild mit suggestiver, dämonischer Kraft hervorzauberte. Man folgte geradezu mit ästhetischem Entzücken den kritischen Florettstichen gegen das Wienertum; man hatte fast eine grausame Freude über die Sicherheit, mit der ein Meister des literarischen Hiebes allem Philiströsen, der herrschenden Moral, der Religion, der sexuellen Lüge und den nicht genehmen künstlerischen Richtungen Wunden über Wunden versetzt.

Aber dann plötzlich hatte man die Empfindung: an dieser Stelle hat das Wort den Inhalt mitgerissen, hier spricht der Künstler, der Visionär, dem eingestandenermaßen das schwere, nüchterne Gedankenfundament nicht mehr alles bedeutet.

Dieser Eindruck wurde im zweiten Teil seines Programms durch den Vortrag der »Chinesischen Mauer«, einer Meditation über den Fall der in Chinatown ermordeten Else Siegl, nur befestigt. Man bewundert zunächst die Gedankentiefe, mit der hier die einfache Mordtat zum weltumspannenden Kulturproblem erhoben wird. Aber wenn dann die Sätze, die Bilder immer leidenschaftlicher daherjagen, wenn das Schreckgespenst eines Riesenchinesen leibhaftig ausgemalt wird, der das ganze moralinkranke Abendland mit würgender Hand hinmordet und in den »Koffer der Verwesung« zerrt, so versagen wir die geistige Gefolgschaft und bestaunen nur noch den Phantasiemenschen und außerordentlicher Gestalter.

Ein kleines, gewähltes Publikum lauschte dem Redner mit wachsendem Interesse und spendete ihm lebhaften Beifall.

[Berliner Tageblatt, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 28-29] - zitiert nach Austrian Academy Corpus