Rezension des Brenner

Vorlesung von Karl Kraus

Man kann dem Wesen einer schriftstellerischen Persönlichkeit, deren Eigenart in ihrer Wirkung auf die Zeit zwar erkannt (und vielfach dort am gründlichsten erkannt ist, wo gleichzeitige Nicht-Anerkennung sich als Notwehr dieser Erkenntnis fühlbar macht), in ihrer ursprünglichen Bedeutung über das Zeitläufige hinaus jedoch erst vage empfunden wird, kaum besser in die Tiefe nachspüren als durch den Versuch einer Abgrenzung gegen Persönlichkeitsanalogien, die mit Recht und Verdienst zum Vergleich herangezogen werden. Die Vorstellung, daß die geniale Begabung keine Vorbilder hat, erscheint in jedem Betracht einleuchtender als die Erkenntnis, daß sie ohne Vorläufer kaum zu denken, geschweige denn in ihrem eigensten Wert zu verdeutlichen ist. Es klang, wie immer, bis heute paradox, doch nun bestätigt, wie immer, es die Zeit: Das Talent tritt »origineller« auf als das Genie. Es gibt sich vergeistigter als der Geist. Es ist abgeklärter als dieser, weil es sich aufgeklärter in die Welt setzt. Es hält mit einem raffinierten Illustrationsvermögen anscheinend sinnvoll ein Weltbild zusammen, das die simple Perlustrationskraft des Genies scheinbar sinnlos zerschlägt. Wo zwischen schöpferischer Begabung und Talent die geistige Grundanschauung divergiert, liegt ja der Fall einfach und klar: es entsteht da in der Regel jenes banale Verständnis einer Unebenbürtigkeit, das dem Kulturverwerter zunächst den Vorzug vor dem Kulturumwerter, dem ewigen Weltverbesserer vor dem zeitentbundenen Weltverstörer gibt. Wo indes die Vollreife eines Talents, in dem das Geniale irrlichterliert, der Unreife eines nachgeborenen Genies, das vom blitzenden Talent oft schwer zu unterscheiden ist, auf der Oberfläche einer geistigen Verwandtschaft begegnet, entsteht mit Vorliebe jenes fatale Mißverständnis einer Ebenbürtigkeit, das den Vorläufer als den Erfüllenden, den Erfüllenden als den Nachläufer begreift, das der Priorität in jedem Fall das Recht auf Originalität zugesteht und den Grad der geistigen Verwandtschaft an der Zufälligkeit gedanklicher Übereinstimmungen, der Ähnlichkeit gedanklicher Formulierungen, nicht an der Spannweite der geistigen Naturelle mißt. Man hat Karl Kraus mit Swift, mit Talleyrand, mit Lichtenberg verglichen. Man hat ihn mit Saphir und Oskar Blumenthal verglichen. Und zwischen den beiden Polen dieser Vergleichsbedürfnisse, die immerhin mehr als das Problematische seiner Bedeutung fixieren, bewegt sich nach wie vor das weite Flachrund eines kritischen Betriebs, das an Hervorragendem überhaupt nicht Anstoß, geschweige denn dazu Stellung nimmt.

Die einzige literarische Vergleichsmöglichkeit jedoch heißt Lichtenberg. Wer Karl Kraus zu außerdeutschen Satirikern in Beziehung setzt, mag zwar diesen oder jenen charakteristischen Zug beleuchten, der heute schon das ungewisse Selbstporträt dieses einzigartigen modernen Schriftstellers zur künftigen Aufnahme in die Ahnengalerie der souveränen Spötter empfiehlt; insoweit aber diesen Vorfahren die Sprache nur das Mittel war, Ideen und Gedanken auszudrücken, die auch in einer Übersetzung zu vollem Leben erwachen, greift die Parallele fehl. Sie verkennt ein Grundelement des Kraus’schen Schaffenszwanges, das Besondere seiner Dialektik. Denn seine Gedankenwelt, die durch die Zudringlichkeiten eben jener Außenwelt, die sich durch Ideen fortbewegt, erst in Schwingung gerät, empfängt in ihren witzigsten Auslassungen wie in ihren visionärsten Gestaltungen ihre eigentliche Leucht- und Überzeugungskraft so sehr vom Geist der Sprache, der sie sich täglich neu entbindet, daß sie ebenso unübertragbar erscheint wie sein Stil, der den innersten Lebensnerv dieser Sprache in einer Weise bloßlegt, daß (wie Goethe sagt) jedem Wort der Ursprung nachklingt, wo es sich herbedingt. In Lichtenberg jedoch scheint in der Tat eine satirische Denkkraft vorgeboren, deren sprachliche Tektonik etwas von jenem elementaren Stilprinzip durchschimmern läßt, dessen völliges Erfühlen und Verdeutlichen — verbunden mit dem Mut, die eigene Vorstellungskraft den strengen Forderungen dieses sprachlichen Prinzips bedingungslos zu unterwerfen — Karl Kraus nicht bloß zu einem glänzenden Stilisten, sondern zu einem stilistischen und denkerischen Phänomen macht. Diese Gabe nun oder richtiger dieses Verhängnis, gleichsam den Geist der Sprache für sich denken zu lassen und ihm traumwandlerisch in die Labyrinthe einer Vorstellungswelt folgen zu müssen, wo sich aufdämmernde Erkenntnisse nicht mehr rational begreifen, sondern wie Licht und Luft und alles, was ohne Anfang, ohne Ende und ohne Sinn und Unsinn ist, nur mehr geistig einatmen lassen — dieses bei aller Treffsicherheit scheinbar Zweck- und Ziellose einer schöpferischen Selbsterschöpfung, — das derzeit noch mystisch Verhüllte dieser vehementen Selbstentblößung ist es, das den originalen Wert des Verfassers der »Sprüche und Widersprüche« bedingt und ihn von allen Vorläufern, auch von dem völlig unpathetischen, mehr auf den Intellekt der Spekulation als auf den des Temperaments gestellten Lichtenberg unterscheidet. Den geaichten Kunstdenkern aber ist gerade dadurch dieser unqualifizierbare Denkkünstler höchst verdächtig. Sie empfinden das Knarren der Angeln, aus denen hier eine Welt der flüchtigsten Erscheinungen gehoben ist, als die Leistung und den Energieaufwand von Haß und Liebe, der diesen flüchtigen Mikrokosmus künstlerisch perspektiviert und in überwirklichkeitsgetreuer Verzerrung festhält, als das Geräusch, und zwar als ein umso disharmonischeres Geräusch, je mehr sich dieser künstlerische Aufwand vom motivlichen Anreiz entfernt, je verbohrter in sich dieser Distanzierungstrieb erscheint. Sie erblicken darin nur den Bluff einer Methode, deren sinnfälliger antagonistischer Mechanismus (vielleicht nur weil er aus sich
kein Geheimnis macht) ihnen allzu plausibel und daher geistig leer zu laufen scheint. Diese so gründlich auf- und abgeklärte Zeit erkennt zwar den Lyriker, den Epiker, den Dramatiker (oft in abgegriffenen Exemplaren) als denkenden Künstler an, aber sie läßt den satirischen Gestalter ihrer Unkultur weder als Denker noch als Künstler gelten. Diese Zeit hat Hogarth und Goya, die grotesken Sittenschilderer ihrer Zeit und ihres Landes, als künstlerische Revolutionäre entdeckt und ihre große Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der neueren Kunst dem Verständnis erschlossen. Sie selbst aber verschließt sich dem letzten Verständnis einer in und aus ihr wirkenden literarischen Persönlichkeit, deren geistige Ätzkunst nur in dem graphischen Werke der genannten Bildkünstler ihresgleichen hat. Ist es nicht seltsam, daß sie den »Strichwitz« bei Goya als sublimen Reiz der künstlerischen Rhythmik zu würdigen versteht, während ihr das analoge Mittel, die Konzentrationskraft des künstlerischen Ausdrucks zu verdichten, bei Karl Kraus — nämlich sein Wortwitz — wider den Strich geht? Dort findet sie durch Witz und Pathos den dunklen Urgrund eines künstlerischen Wirkens erhellt, das dem eminent Zeitbefangenen des Sujets in einer oppositionell-persönlichen Darstellung den außerzeitlichen Rhythmus gab. Hier, wo der moderne Zeitgeist selbst die Reibungsfläche ist, an der eine stets sprungbereite, ins Dunkel ihrer geheimnisvollen Sendung geschmiedete Phantasie sich zu sich selbst befreit, indem sie sich zu Visionen entflammt, die wie blitzartige Erleuchtungen plötzlich in greller Schärfe, in weher Nähe und gespenstischer Losgebundenheit eine Welt aufspringen machen, die im stumpfen Licht des Alltags fern und vermummt, gleichgültig und unverrückbar daliegt — hier, wo sie keine lebendige Vergangenheit, sondern ihre verlebte Gegenwart attackiert fühlt, verliert diese Zeit die Witterung für das Außerordentliche eines Gährungserregers wie Karl Kraus. Hier wertet sie Witz und Pathos als Effektpole eines technischen Raffinements, während es in Wahrheit wie bei Goya die Affektpole einer Anschauung — zwar keiner geläufigen Welt-, doch einer ungeläufigen Mitweltanschauung — sind. Schließlich aber hat es seine tiefere Bedeutung, wenn der spitzfindige Kunstverstand einer Zeit, die die Lösung der Welträtsel im Kopf und ihre eigene Auflösung im Herzen trägt, einer künstlerischen Phantasie Gefolgschaft weigert, die ihm verruchterweise nichts mehr zwischen den Zeilen, aber alles über den Zeilen zu lesen übrig ließ. Denn aus der Notgedrungenheit dieses Unverständnisses (das immerhin schon fühlen mag, daß hier ein Stein des Anstoßes sich allgemach zu einem Markstein auswächst), nicht aus der Beiläufigkeit von Mißverständnissen ist dieses Dasein Karl Kraus erst als ein Schicksal zu begreifen.

Diese grundlegende Erkenntnis läßt sich nun freilich nur aus einer gründlichen Kenntnis der Gesamtleistung schöpfen. Der Vortrag einzelner, zum Teil natürlich auch mehr wirksamer als in tieferem Sinn charakteristischer Bruchstücke kann diesen entscheidenden Eindruck kaum vermitteln. Ja, es frägt sich, ob der Umstand, daß sich hier eine tief absonderliche, immerhin noch vieldeutige Erscheinung, von der nur feststeht, daß sie im gegenwärtigen deutschen Schrifttum ohne Beispiel ist, dem Publikum gewissermaßen von ihrer zugänglichsten Seite zeigen muß, den Zugang zu dieser Erkenntnis nicht vielmehr verlegt. Die lebhafte Anerkennung, die Karl Kraus als Interpret seiner Schriften findet und die ihm auch hier von einem überraschend zahlreich versammelten Auditorium spontan gespendet wurde, vermag mich in dieser Ansicht nur zu bestärken. Denn in mir wurzelt das Gefühl, daß ein gut Teil dieses Beifalls dem prompten Auffassungsvermögen entspringt, mit dem das Publikum an einer im Tiefsten schwer verständlichen Persönlichkeit zunächst das Wirksame ihres Mißverständlichen aufgreift — das heißt: jenes unmittelbar Verständlichen, das ihr tiefstes Wesen mehr verschleiert als enthüllt. So wird z. B. der minder orientierte Hörer, der einem »Humoristen« sein willfähriges Entgegenkommen zu bekunden wähnt, hinter der grotesken Laune, die jene drastischen Satiren wie »Die Welt der Plakate«, »Der Biberpelz«, »Der Traum ein Wiener Leben« schuf und vortrug, schwerlich das Pathos einer Weltbetrachtung wittern, dem die ernst und einsam ragende Kulturtat der dreizehn Fackel-Jahrgänge zu danken ist. Die volle Harmonie dieses Verbundenseins zweier scheinbar unvereinbarer Ausdrucksextreme wird gewiß nur jenen eingehen, die die tragische Resonanz einer solchen Weltbetrachtung auch noch aus ihren heitersten Varianten herauszuhören vermögen. Mit umso größerem Nachdruck aber ist nach dieser prinzipiellen Feststellung hervorzuheben, daß der Abend gerade dem Kenner des Kraus’schen Schaffens eine Überraschung bot. Es erwies sich nämlich, daß in der äußerst luziden Art des Vortrags, der hell, scharf und eindringlich — ohne eine Spur jener Sonorigkeit, auf die die Brusttöne der Überzeugung angewiesen sind — im wesentlichen mehr das Wie als das Was der Gestaltung betont, einige Glossen und aphoristische Betrachtungen zu besonderer Geltung kamen, denen man diese zarte Leuchtkraft kaum zugetraut hätte. Wie etwa »Tag der Kindheit« und »Ostende, erster Morgen«: an welch letzterem Beispiel besonders klar wurde, wie sehr die eigenartige Reizempfindlichkeit, die diese kleinen satirischen Gebilde konzipiert, jener des Lyrikers verwandt ist. Die energischste Zusammenfassung aber aller jener Momente, die auch dem Ahnungslosen eine Ahnung von der wesentlichen Bedeutung dieser Kampfnatur vermitteln können, bedeutete der Vortrag der »Chinesischen Mauer«: Hier, wo Karl Kraus es wagen durfte, Zitate aus Shakespeare und aus der Apokalypse in einer Weise anzubringen, daß sie wie aus seiner eigenen Schöpferglut gehoben scheinen; hier, wo in dem visionären Feuer der Paraphrase der stoffliche Anlaß wie zu Asche verbrennt; hier, wo ein elementares Ethos zu jener bezwingenden Geberde ausholt, die einer Moral, die davon lebt, ihren Bekennern die Hölle auf Erden heiß zu machen, ihren Himmel auf Erden verhängt — hier, wo nur mehr der Rhythmus einer schöpferischen Leistung sprach, hier konnte auch der allgemeine Beifall nur dem künstlerischen Einklang von Vortrag und Gestaltung gelten.

Wir danken Karl Kraus, daß er unserer Anregung, in Innsbruck zu lesen, gefolgt ist, und hoffen, daß er gelegentlich auch einer neuerlichen Einladung Folge leisten wird.

[Der Brenner (16. Heft des II. Jahrganges), 15.01.1912, zitiert in: Die Fackel 341-342, 27.01.1912, 44-48] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

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Datum: 
15.01.1912