Rezension des Grazer Volksblatt

Eine eigenartige Persönlichkeit hat sich Sonntag den Grazern vorgestellt, Karl Kraus, der gefürchtete Herausgeber der ‚Fackel‘. Ist einer der modernsten Schriftsteller. Und doch wird er von der fortschrittlichen Presse totgeschwiegen. Er hat das fluchwürdigste Majestätsverbrechen begangen, er hat gelästert wider den Götzen der freisinnigen Intelligenz, er hat die allmächtige ‚Neue Freie Presse‘ bekämpft! Sich diesen Kampf zur Lebensaufgabe gemacht … Glaubt nicht an Heinrich Heine!! Leuchtete mit seiner Fackel in die Synagogen hinein, in die Börse, in die Familien-Oligarchie der Universitäten, in das gesamte gewerbsgeschäftsmäßige Cliquewesen der öffentlichen Meinung, der Machthaber im akademischen, politischen, bureaukratischen Kulturleben der Gegenwart. Die zwölf Jahrgänge seiner ‚Fackel‘ sind ein nach Inhalt und Form gleich wertvolles Archiv zeitgeschichtlicher Kulturdokumente. Diese eigenartige Persönlichkeit am Vorlesetisch zu sehen, danken die Grazer der umsichtigen Konzertdirektion A. Seelig [...]. Karl Kraus las »Der Traum ein Wiener Leben«, Glossen und Aphorismen, »Die Welt der Plakate«. In der Glosse »Feuilletonisten und Natur« fällt ein treffendes Wort über die verlogene Feuilletonlyrik Heines, des Dichters vom träumenden Fichtenbaum, in »Riedau und Lido« höhnt er mit beißenden Worten die Korruption der Presse; rast sich mit seiner ganzen Persönlichkeit aus in der orgiastischen Phantasie »Die chinesische Mauer« … Man hätte der feinnervigen Gestalt eine solche Wucht der Stimme nie zugetraut. Man muß also kein Riese sein, am wenigsten im Kampf der Geister, um den Gegner zerschmettern zu können. Daß die Wiener Schmocks mit ihren Dutzendphrasen von Freisinn, freier Forschung, Voraussetzungslosigkeit, Fortschritt u. dgl., nur dem Intelligenz-Spießer imponieren, einem Karl Kraus aber nicht gewachsen sind, daher ihn besser totschweigen, begriff gestern jeder, der den Publizisten sah und hörte. Er ist eine Art Ibsen, aus der Literatur die Großstadt-Journalistik übertragen, ein »Volksfeind«.

[Grazer Volksstimme, 20.02.1912, zitiert in: Die Fackel 345-346, 31.3.1912, 19-20] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743
Datum: 
20.02.1912