Rezension des Merker

Karl Kraus als Vorleser

Seine Stimme schneidet Worte in die Luft hinein. Man kann die einzelnen Buchstaben lesen, als sähe man eine Hand, die sie aneinanderreiht. Und man gewahrt auch das Komma, den Strichpunkt, das Fragezeichen und den Punkt. Ein Aphorismus ist fertig … Leicht und lustig wie ein Kinderspiel erscheint der schmerzvolle Zeugungsakt und der Zuhörer freut sich. Man liest, was man nur hört. Und diese Art des Vorlesens macht es einzig möglich, den Gedankenreichtum der Kraus’schen Sätze, alle minutiösen Feinheiten und Nuancen des Stils im Augenblick zu erfassen. Dadurch, daß man die Zeilen sieht, vermag man auch zu sehen, was zwischen den Zeilen steht.

Karl Kraus spricht brillant; mancher Schauspieler könnte von ihm lernen. Tant mieux. Es ist jedenfalls angenehmer einen geschmeidigen Läufer zu sehen als einen armseligen Stolperer. Flachköpfen, denen es wohltut, die außerordentliche Wirkung der Vorlesungen seiner Sprechtechnik zuzuschreiben, hat Kraus selbst geantwortet. »Die Schmach, die Wirkung der ‚Chinesischen Mauer‘ einem von Herrn Strakosch überkommenen dramatischen R zu verdanken, hätte ich nicht überlebt.« Er ist auch Schauspieler. Gewiß. Aber nicht mehr oder weniger als jeder Mensch, der sich zwei Stunden lang von der Öffentlichkeit anstarren lassen und Haltung bewahren muß.

Hinter jeder Wahrheit, hinter jedem Gedanken steht ein Mann. Lange wollte man diesen Mann hinter Karl Kraus’ Werk nicht sehen. Daß einer, der Witze macht, ernst sein könne, mochte man nicht glauben. Wenn das, was er sagt, bloß Scherz wäre, würde die Menge mitgehen; wenn es bloß Ernst wäre, käme gewiß mancher, der leicht schwitzt, in Gemütsbewegung. Karl Kraus zeigt die Widersprüche auf. Und überall, wo Widerspruch ist, ist das Komische. Er existiert unter Doppelreflexion und darum hat er ebensoviel Pathos als Komik. Die sichern sich gegenseitig. Denn ohne Komik wäre das Pathos Illusion, ohne Pathos die Komik Unreife.

Nun ist er vor sein Werk getreten. Und wer ihn lesen hört, der wird an ihn glauben. Nicht infolge der Suggestionskraft seiner Persönlichkeit, sondern weil man einen Menschen gewahr wird, der an seinen Zeitgenossen und der Verkehrtheit ihrer Anschauungen leidet. Er ist ein strenger Ethiker und nur aus Scham, weil er die höchste Sittlichkeit, die er wollte, nicht finden konnte, wurde er Zyniker. Sein Zynismus ist nur Maske, seine Ironie nichts als ein Inkognito. Paul Czinner.

[Der Merker, zweites Aprilheft, zitiert in: Die Fackel 323, 18.05.1911, 10] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 
Datum: 
02.04.1911