Rezension des Prager Tagblatt

Vorlesungen von Karl Kraus.

Dem Rhapsoden seiner eigenen Dichtung Karl Kraus ist von irgendwo her, aus einem jener Winkel, in denen man ihn für einen Glossator des Tagesereignisses hält, der Vorwurf gemacht worden, er schreite mit der Zeit nicht fort, weil er noch immer seine Flüche gegen den Krieg ausstoße. Ein einfältiges Mißverständnis, das noch immer nicht glauben will, daß die letzten Tage der Menschheit auch die schlechtesten waren und daß die Zeit sich noch lange nicht so vermenschlicht hat, um einen Rufer von der Kraft Karl Kraus’ entbehren zu können. In den einleitenden Worten zu der ersten unter den Vorlesungen, die er jetzt in Prag hielt, hat er, indem er den Vorwurf ironisierte, noch ein Übriges getan und gezeigt, daß er, auch in einem jenen Kritikern verständlichen Sinn, »mit der Zeit fortschreitet«. Er rückte den Vortrag aus seinem Kriegsdrama in eine Sphäre, in der es jedem begreiflich wurde, daß die Verfluchung nicht nur denen gilt, die zur Zeit der Abfassung Sieger waren, sondern allem militärischen Ungeiste.
Mit Worten, wie nur Kraus sie formen kann, sprach er von der inzwischen gemachten Erfahrung, daß jetzt »in jeder Sprache deutsch, nein preußisch« gesprochen wird und forderte die Hörer auf, an der letzten Stelle des Verses »Fest steht und treu die Wacht am … « den Namen eines beliebigen Flusses einzusetzen. Welchen er diesmal meinte, war klar und wurde noch klarer aus den Anspielungen auf Dichter, die Generalsuniformen anziehen und Reden über militärische Jugenderziehung halten. Selbst die bornierteste Ansicht über Kraus’ »Deutschfeindlichkeit« mußte wohl zu der Erkenntnis belehrt werden, daß seine antipreußische Dichtung ebenso wenig gegen wie für eine Nation geschrieben ist und daß in diesem Glaubensbekenntnis eines Propheten und sittlichen Fanatikers das Wort Nation keinen Raum findet.

Die Szenen, die der erste Abend aus den »Letzten Tagen« darbot, waren voll jenes fürchterlichen Humors, der, aus der unglaublich treuen phonetischen Nachahmung der Kriegswelt geschöpft, zu einem Lachen zwingt, dessen Ursprungs aus dem Grauen sich der gute Hörer in jeder Minute bewußt wird. Höhepunkte: Die Szene, wie die Kriegsberichterstatterin die Front besucht. Kraus’ dichterische Leistung besteht in nichts weiter als dem fast wörtlichen Zitat des Feuilletons, das, in diesen Zusammenhang und in diese Stimmung eingestellt, als Grausigkeit wirkt. Das in Zeitungslettern umgesetzte Erlebnis wird, durch Stimme und Gebärde des Vortragenden, gewissermaßen zu der Intensität zurückgerufen, die es hatte, als es Erlebnis war; vielmehr zu der Intensität, die es für einen ethischen Menschen hätte haben müssen und die von der Schreiberin zur feuilletonistischen Verniedlichung gezerrt ist. Indem Kraus den entsetzlichen Inhalt in dem preziösen Ton vorträgt, der dem Stil der Schilderung entspricht, wird der schreckliche Kontrast zwischen dem Wesen des Geschilderten und der Behaglichkeit der Darstellung offenbar und so das Ganze zu einer Verwünschung des Vorganges und zugleich zur Verfluchung dessen, der ihn zierlich beschrieb. Indem Kraus schließlich einen Satz aus dem Feuilleton »Solche Kontraste gibts nur an der Front« zum Refrain eines in Wiener Manier gesungenen Liedes macht, das sich, von Offizieren gesungen, aus dem Schluß der Szene loslöst, erhält die Satire einen gespenstigen Ausklang. Noch schauriger das »Couplet macabre« vom Papagei, dessen Wort und Melodie von Kraus ist; das Lied von dem furchtbaren Greis, als der Franz Joseph in Kraus’ Geist lebt, von einer Stimme gesungen, welche die Atmosphäre einer todbringenden Lebendigkeit zum Tönen bringt.

Der zweite Abend brachte künstlerische Erlebnisse von einer Macht, die kaum gesteigert werden kann. Karl Kraus’ Lyrik leitete ihn ein, diese Lyrik, deren Klang, deren Einheit von Wort und Sinn alles, was die Zeitgenossen hervorbringen, wie mißtöniges Krächzen erscheinen läßt. Wie strahlend in seiner romantischen Pracht ist etwa dieses jüngste Gedicht »Legende«; die sinnvolle Unvernunft eines Traumspiels gleitet ins Tageslicht hinüber, in dem die Geräusche einer gottfremden Welt hörbar werden. Die Verse, die Kraus zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum der »Fackel« schrieb, sind ein Extrakt aus der Gedankenwelt des feurigsten Denkers unserer Tage. Das Sonett auf den gefallenen Freund Franz Janowitz, die »Absage« an eine verdorbene Mitwelt, Epigramme, jüngsten Entwicklungen gewidmet — diese Verse, von dieser Stimme gesprochen, sind stärkster musikalischer Eindruck.
Zum gewaltigsten Pathos aber steigerte sich der Vortrag, als Kraus die Schluß-Szene aus den »Letzten Tagen der Menschheit« brachte. Die Parodie wird zum Gottes-Gericht, der Inhalt von Zeitungsberichten, als Vorgang geschildert, der sich von der Flammenwand des Horizonts abhebt, zur greulichsten Episode, die je in einem Drama vorkam, und das Wort aus dem Munde des Dichters zum Posaunenton, der durch die Zeiten tönt. Das mißbrauchte Wort Erschütterung, hier ist es an einer durchzitterten Hörerschaft zur Wahrheit geworden.

Gestern, am dritten Abend, war ein Teil des Programms wesens- verwandter fremder Dichtung gewidmet, die, indem sie Kraus zum Vermittler gewinnt, wie eine Kundgebung seines eigenen Wesens erscheint. Eine mächtige Szene aus Shakespeares »Heinrich VI.« ist, als Anklage gegen den Krieg, eine klassische Bestätigung von Kraus’ Zorn und Wehruf, Raimunds friedlicher Humor harmoniert mit der Güte und der Menschenfreude Krausscher Lyrik. Szenen aus dem »Bauer als Millionär« und das Hobellied (Klavierbegleiter war — wie am ersten Abend — Dr. Otto Janowitz) schufen eine idyllische Stimmung, die aber durch den letzten Teil des »Nachrufs« jäh zur Leidenschaft des empörten Ethikers emporgerissen wurde. Eigene Lyrik (darunter das Grablied auf Peter Altenberg und die prachtvoll melodiöse »Jugend«) und die immer aufs neue hinreißende Paraphrase der Kant-Worte vom ewigen Frieden umrahmten das Programm. Alle Vorlesungen fanden vor ausverkauftem Saal statt. Der Beifall nahm stürmischeste Formen an. Am Schlusse hatte er keine Grenzen.

Ludwig Steiner.

[Prager Tagblatt zitiert in: Die Fackel 546-550, 07.1920,  26-28] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

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Datum: 
15.06.1920