Rezension des Tagesboten aus Mähren und Schlesien

(Dr. St.) Im kleinen Festsaal des Deutschen Hauses. Eine spanische Wand verbindet das Künstlerzimmer mit dem Vortragspodium. Hinter dieser spanischen Wand kommt Karl Kraus heran, ungesehen vom Publikum, um plötzlich das Podium zu besteigen. Er ist mit einemmal da, im Lichtkreis der Lampe, verbeugt sich kurz und beginnt, nachdem er noch längere Zeit an der Beleuchtung gebessert hat, seine Aphorismen zu lesen. Das ist wie ein unerwarteter Angriff. Ein Pfeilregen ins Publikum. Und man ist noch über dieses plötzliche Losstürzen so verblüfft, daß man die ersten Aphorismen kaum erfaßt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt ein glücklicher Einfall ist, Aphorismen zu lesen. Aphorismen sind das Gewürz in der Küche des Geistes. Hier und da ein Körnchen, aber nicht gleich eine ganze Handvoll. Und dann: keine noch so vollendete Vortragskunst kann das Satzbild ersetzen. Die Antithese ist immer wirksamer, wenn man sie auch sieht, die chiastische Stellung will in der typographischen Anordnung erblickt werden. So geschieht es, daß gerade die besseren und feineren dieser »Sprüche und Widersprüche« nicht ganz verstanden werden und nur jene zu voller Wirkung kommen, die sich zum Wortwitz neigen. Man muß aber sagen, daß selbst diese nicht den Armeleutegeruch an sich haben, der sonst am Wortwitz haftet, daß sie mit ungewöhnlicher Brillanz sprachliche Meisterschaft verraten. Den Reigen dieser Aphorismen begleitet also abwechselnd nachdenkliches Schweigen oder — besonders dort, wo die Knappheit des Ausdrucks das Verständnis erleichtert — zustimmendes Lachen. [...] Und Karl Kraus schmunzelt zum Vergnügen des Publikums. »Nun, ich gefall’ mir selber gut«, wie die Bettina von Arnim sagte. Auf die Aphorismen folgt eine Satire: »Der Biberpelz«. Eine geistreiche, witzige Satire mit blendenden Wendungen und einer Menge feiner Züge zur Psychologie des Wiener Kaffeehauses. Aber aus einer großen Verbitterung herausgewachsen. Man hat Karl Kraus jahrzehntelang totgeschwiegen und übersehen, daß Männer wie er zu den Notwendigkeiten einer Kultur gehören. Er ist ein Gärungserreger, ein Spaltpilz, ein Zersetzer, ich glaube, wenn er ein Glas Wasser scharf anschaut, zerfällt es in Wasserstoff und Sauerstoff. Er hat sicher elektrische Ströme in sich. Seine schwefelsäurehältige Intelligenz frißt Brandflecke in alle öffentlichen Meinungen. Und das ist gut: man sieht sich veranlaßt, sie manchmal zu wechseln. Er hat etwas von Talleyrand an sich, ist zugleich enfant terrible und Pritschenmeister. Und er ist eitel wie Talleyrand und alle sehr geistreichen Leute. Ich glaube, wenn man ihn rechtzeitig anerkannt hätte, wäre er zahmer geworden. Jetzt geht es ihm manchmal nach einem Hebbelwort: »Der Mensch verwandelt ein kleines Recht dadurch, daß er es zu eifrig verfolgt, sehr oft in ein großes Unrecht.« Siehe den Fall Harden. Karl Kraus ist eine seltsame Mischung. Diese spanische Wand vom Künstlerzimmer zum Vortragstisch gibt zu denken. Sie ist das Symbol einer Schüchternheit: dem Autor der putzigsten Aphorismen und Satiren ist es unangenehm, auf dem kurzen Weg zum Podium vom Publikum beobachtet zu werden. Das spricht nicht für Gleichgültigkeit gegen Urteile, nicht für eine vollkommene Jägersicherheit. So ist in seinem Wesen Durchschlagskraft und Kleinlichkeit, Schüchternheit und Bissigkeit gemengt. Und ich meine, wenn Karl Kraus nicht sehr boshaft sein müßte, so wäre er vielleicht sehr gutmütig. Er hat im Grunde ein gutes Herz. Aber er verhärtet es, wenn man nicht anerkennt, daß er ein gefährlicher Mensch ist. Alles das liest sich zwischen den Zeilen der Satire »Der Biberpelz«. Mit der »Welt der Plakate« gab er dann noch eine Groteske auf die Reklameorgien unserer Tage, auf das unerträgliche Geschrei aus allen Winkeln und von allen Wandflächen unseres Alltages. Die zweite Abteilung brachte den Essay »Die chinesische Mauer«. [...]. Wir haben hier keine Besonderheit des Christentums. Aber wenn Karl Kraus seine wütende Anklage liest, dann wirkt die Kraft einer ehrlichen Überzeugung. Die geballte rechte Faust, die auf dem Tisch liegt, in der grellen Beleuchtung der Lampe, zittert vor innerer Erregung. Er ist von der Macht seiner Worte, vom Rhythmus seiner Sätze, vom rasenden Tempo seiner Gedanken fortgerissen. Und zur Meisterschaft der Sprache gesellt sich die Meisterschaft des Vortrages, der über alle Mittel der Technik verfügt. Ich weiß nicht, warum Karl Kraus so besonderen Wert darauf legt, festzustellen, daß er keinen dramatischen Unterricht genossen hat. Jedenfalls ist dann diese Beherrschung aller Töne und Tempi, diese Plastik und Schwungkraft umso erstaunlicher. Und diese vollendete Vortragskunst trug nicht wenig zu dem außerordentlichen Erfolg des Autors bei, für dessen interessante Bekanntschaft wir der Neuen akademischen Vereinigung, die zu einem ihrer besten Abende zu beglückwünschen ist, dankbar sein müssen.

[Tagesbote aus Mähren und Schlesien, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 60-62] - zitiert nach Austrian Academy Corpus